Артефакт

Kapitel VII. Das Verb

§ 123. Das Verb ist eine Wortart, die einen Vorgang in seinem zeitlichen Ablauf (denken, lesen, laufen) oder einen Zustand in seiner zeitlichen Dauer (frieren, hungern, schlafen) bezeichnet.

Die semantische und die syntaktische Einteilung der Verben

Die Verben können von verschiedenen Standpunkten aus eingeteil werden. Vom semantischen Standpunkt aus unterscheidet man folgende Gruppen von Verben:

1. Vollverben. Dazu gehören:

a) Verben, die eine Handlung, einen Vorgang bezeichnen: arbeiten, lesen, schreiben, springen, waschen u. a.;

b) Verben, die den Übergang von einem Zustand zu einem anderen bezeichnen: einschlafen, erkranken, zufrieren u. a.;

c) Verben, die einen Zustand, die Lage eines Dinges im Räume bezeichnen: sich freuen, liegen, schlafen, stehen u. a.

2. Modalverben. Das sind: dürfen, können, lassen, mögen, müssen, sollen, wollen. Sie bezeichnen das Verhältnis des Subjekts des Satzes zu dem Vorgang, der durch das Vollverb im Infinitiv ausgedrückt wird, sowie das Verhalten des Redenden zur Realität der Aussage.

3. Verben mit abgeschwächtem semantischem Inhalt. Dazu gehören: sein, werden, bleiben, scheinen u. a. Diese Verben werden im Satz als Kopula gebraucht (s. § 248).

4. Hilfsverben. Das sind: haben, sein und werden. Sie dienen meist zur Bildung zusammengesetzter Verbalformen (Zeitformen des Aktivs und des Passivs, Infinitiv II) und haben in diesem Fall keinen eigenen semantischen Inhalt.

Die Grenzen zwischen den Vollverben und den anderen Verben sind fließend. Die Verben mit abgeschwächtem semantischem Inhalt sowie das Verb haben können manchmal auch als Vollverben auftreten.

Wenn wir die Natur, oder die Menschengeschichte, oder unsre geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. (F. Engels)

Ich will nichts, als sagen, was war und ist... (Th. Mann)

Seit Jahrzehnten hatte jede Wahl die Hamburger Arbeiter in jubelnde Begeisterung versetzt, und sie hatten dazu Ursache gehabt... (W. Bredel)

§ 124. Vom syntaktischen Standpunkt aus unterscheidet man subjektive und objektive Verben (субъектные и объектные глаголы).

Die subjektiven Verben drücken einen Vorgang aus, der sich auf keine andere Person bzw. kein anderes Ding richtet. Sie können somit kein Objekt haben: liegen, bleiben, stehen, glühen, kränkeln, springen, sich aufführen und viele andere.

Die objektiven Verben bezeichnen einen Vorgang, der stets auf eine andere Person bzw. ein anderes Ding gerichtet ist: geben, nehmen, fragen, begegnen, gratulieren, sich bedienen, sich erinnern, bedürfen und viele andere.

Das Objekt der Handlung tritt im Satz je nach der Rektion des entsprechenden objektiven Verbs als direktes, indirektes bzw. präpositionales Objekt auf: geben — was? bedürfen — wessen? begegnen — wem? sich erinnern — woran? oder an wen? usw.

Eine besondere Gruppe der objektiven Verben stellen die sogenannten transitiven Verben dar, d. h. Verben, die ein Objekt im Akkusativ (direktes Objekt) verlangen: geben, nehmen, fragen, erzählen, schreiben u. a. Alle übrigen Verben, sowohl die subjektiven als auch die objektiven, nennt man intransitive Verben: liegen, stehen, bleiben, begegnen, bedürfen, sich erinnern u. a.

Manche Verben können bald als objektive, bald als subjektive Verben gebraucht werden: singen, nähen, schreiben, lesen, erzählen u. a. Vgl.:

Sie kämmt es mit goldenem Kamme | Und singt ein Lied dabei... (H. Heine)

Jetzt sang die Marie in der Küche. (A. Seghers)

§ 125. Vom morphologischen Standpunkt aus unterscheidet man: 1) die starken Verben; 2) die schwachen Verben; 3) die Verben praeteritopraesentia; 4) die unregelmäßigen Verben. Diese Einteilung der Verben hängt mit ihrer Konjugationsart eng zusammen. (Näheres darüber s. § 128 ff.)

§ 126. Der Wortbildung nach unterscheidet man folgende Gruppen von Verben.

1. einfache oder Stammverben: machen, lesen, werden, müssen und viele andere;

Anmerkung. Das Suffix -en des Infinitivs ist kein wortbildendes, sondern ein formenbildendes Suffix.

2. abgeleitete Verben. Sie werden von verbalen bzw. nominalen Stämmen gebildet. Die Ableitung geschieht mit Hilfe von Affixen (Suffixun und Präfixen) oder auch affixlos; dabei bekommt manchmal der Stammvokal den Umlaut: streicheln, schläfern, marschieren, duzen; aufstehen, betrachten, erzählen, mitnehmen; filmen, grünen, kürzen u. a.

Bei den mit Hilfe von Präfixen abgeleiteten Verben unterscheidet man zwei Gruppen: Verben mit untrennbaren und Verben mit trennbaren Vorsilben. Die untrennbaren Vorsilben sind: be-, ge-, er-, ver-, zer-, miß-, emp-, ent- (begrüßen, gebrauchen, erzählen, verkaufen, zerschlagen, mißachten, empfehlen, entnehmen). Die untrennbaren Vorsilben sind immer unbetont. Zu den trennbaren Vorsilben gehören: ab-, an-, auf-, aus-, bei-, ein-, mit-, nach-, vor-, zu- und viele andere (abnehmen, ankommen, aufmachen, ausgeben, beiwohnen, eintreten, mitfahren, nachsehen, vorstellen, zuschauen u. a.). Steht das Prädikat des selbständigen Satzes im Präsens, Präteritum oder im Imperativ, so werden diese Vorsilben vom Verb abgetrennt: ich stehe auf, er ging mit, höre zu! Die trennbaren Vorsilben sind betont. Die Vorsilben durch-, über-, unter-, um- können sowohl trennbar als auch untrennbar sein. Hat die Vorsilbe eine konkrete örtliche Bedeutung, so ist sie meist trennbar: ´umziehen — переезжать; ´untergehen — погибать; ´durchfallen — провалиться u. a. m., vgl.: ´übersetzen — переправить, перевозить; über´setzen — переводить; um´schreiben — описывать, перефразировать; unter´drücken — угнетать; durchsuchen — обыскивать u. a. m.

Ich packte meine Sachen zusammen, in einem kleinen Koffer brachte ich alles unter. (J. R. Becher)

Hartinger kam pünktlich... „Was gibt’s? Wie geht’s?“ „Ich bin durchgefallen...“ (J. R. Becher)

Er ordnete seine Zettel, sah seine Angaben durch, gruppierte, unterstrich, verband Notizen durch ein bestimmtes System von Linien. (A. Seghers)

So durchreise er die Welt... (J. W. Goethe)

Alle Verben mit den untrennbaren Vorsilben durch-, über-, unter-, um- sind transitiv.

Ich unterdrückte ein Lächeln. (A. Seghers)

Die paar stillen Straßen mit ihren Vorgärten durchlief er wie Erinnerungen. (A. Seghers)

Das Mondlicht... umspielte die Wipfel der alten Bäume... (H. Mann)

Es gibt Verben, die affixlos von zusammengesetzten Substantiven abgeleitet sind: ´frühstücken (das Frühstück), ´handhaben (die Handhabe), ´ratschlagen (der Ratschlag), ´langweilen (die Langweile), ´kennzeichnen (das Kennzeichen), Trotz des betonten ersten Teils wird dieser nicht abgetrennt: ´handhaben — ´handhabte — ge´handhabt;

Die ganze Gesellschaft war in der größten Verlegenheit; man ratschlagte, was man tun sollte, und konnte keinen Entschluß fassen. (J. W. Goethe)

3. Zusammengesetzte Verben. Als erster Teil eines zusammengesetzten Verbs kann auftreten: ein Substantivstamm (mutmaßen, stattfinden, teilnehmen, wetteifern), ein Adjektivstamm (freisprechen, frohlocken, lahmlegen, liebkosen, wahrsagen), ein Partizip II (bekanntgeben, verlorengehen), ein Adverb (schiefgehen, kaltstellen, großtun), ein Infinitiv (kennenlernen, stehenbleiben).

Die zusammengesetzten Verben haben den Hauptton auf dem ersten Teil (´stattfinden, ´teilnehmen, ´freisprechen, ´lahmlegen, ´kennenlernen, bekanntgeben, ´leichtfallen, ´schiefgehen) und werden im Satz wie Verben mit trennbaren Vorsilben behandelt.

Er blieb stehen und warf einen Blick auf das Stadtpanorama. (W. Bredel)

Er nahm an der Diskussion nicht teil... (A. Seghers)

Es ist ihr niemals leichtgefallen, zu bitten. (L. Feuchtwanger)

Bei manchen zusammengesetzten Verben wird der erste Teil trotz des Haupttons nicht abgetrennt: ´mutmaßen, ´mutmaßte, ge´mutmaßt; ´liebkosen, ´liebkoste, ge´liebkost;

Stumm, wie ihr Mund war, wurden ihre Augen... Nur die Hände schwiegen nicht. Sie liebkosten das silberne Etui, sie sprachen mit ihm... (J. Brezan)

4. Verben mit sich. Die Verben mit sich stellen einen besonderen Verbtyp dar. Nur einen kleinen Teil dieser Verben kann man als reflexive Verben betrachten. Die reflexiven Verben bezeichnen eine Handlung, die auf die handelnde Person zurückgeht: sich waschen, sich anziehen, sich rasieren, sich kämmen u. a. Vgl.:

Nicht ohne Selbstzerknirschung sah er die englischen Stoffe an, in die Wiebel sich kleidete... (H. Mann)

„Womit soll ich mein Kind pflegen?... Wie soll ich mein Kind kleiden?“ (W. Bredel)

Den reflexiven Verben stehen ihrer Bedeutung nach die sogenannten reziproken Verben nahe. Diese Verben bezeichnen eine Handlung, die mindestens zwei handelnde Personen voraussetzt. Dabei geht die Handlung von jeder der handelnden Personen aus und richtet sich auf die andere handelnde Person: sich zanken, sich streiten, sich schlagen, sich küssen, sich umarmen u. a.

...und als sie so voreinander standen, spürten sie beide, daß sie sich gerne umarmt hätten, aber beide standen steif und stumm... (E. Claudius)

„Haben Sie sich denn gezankt? Sie wollten doch heute heiraten?“ (H. Fallada)

In den übrigen Fällen ist sich kein Pronomen, sondern eher eine grammatische (wortbildende) Partikel. Mit Hilfe von sich bildet man:

a) intransitive Verben von den entsprechenden transitiven: bewegen — sich bewegen, erinnern — sich erinnern, fassen — sich fassen, versammeln — sich versammeln u. a. Vgl.:

Es war zu hören, daß Graf Dosse sich bei der Tür bewegte, das Parkett knirschte. Man konnte beobachten, daß er den Kopf wandte und die Lippen bewegte, als ob sie steif geworden wären. (B. Kellermann)

Nach einer Weile erinnerte ich mich an das Lachen, mit dem Hartinger auf mich zugekommen war. (J. R. Becher)

Im Programm war vorgesehen, daß er nach Tisch ein kleines Violinsolo vortragen sollte, aber niemand erinnerte ihn daran... (B. Kellermann)

b) intransitive Verben (mit oder ohne Vorsilbe) von dem Stamm eines Verbs bzw. einer anderen Wortart: sich entsinnen (sinnen), sich entschließen (schließen), sich schämen (die Scham), sich begnügen (genug), sich röten (rot) u. a.

Sofort ging ihm Christa durch den Sinn. ... Auf jeden Fall würde sie sich seiner nicht zu schämen brauchen! (B. Kellermann)

Als grammatische (wortbildende) Partikel weist sich gewisse Besonderheiten auf, die es von den wortbildenden Suffixen und Präfixen sowie von den anderen Partikeln unterscheidet. So verschmilzt sich nie mit dem Verb zu einem Wort; im Satz steht sich recht oft nicht beim Verb, sondern wird von diesem durch verschiedene Satzglieder abgetrennt; außerdem verändert es sich nach Person und Zahl. Dabei stimmen die Formen der 1. und 2. Person Singular und Plural mit den entsprechenden Akkusativformen der Personalpronomen überein.

Singular Plural
1. P. ich bewege mich 1. P. wir bewegen uns
2. P. du bewegst dich 2. P. ihr bewegt euch
3. P. er bewegt sich 3. P. sie bewegen sich

Anmerkung. Die deutschen Verben mit sich und die russischen mit dem Morphem -ся stimmen durchaus nicht immer überein, vgl.: sich freuen — радоваться, sich bewegen — двигаться; sich erholen — отдыхать, sich beeilen — спешить, sich verspäten — опаздывать; lernen — учиться, lächeln — улыбаться. Das gilt jedoch nicht für die reflexiven und reziproken Verben, vgl.: sich waschen — мыться, sich anziehen — одеваться, sich zanken — ссориться, sich umarmen — обниматься.

Von den obengenannten Verben mit sich sind die Verben zu unterscheiden, bei denen das Reflexivpronomen sich im Dativ steht: sich ansehen, sich notieren, sich merken, sich vorstellen, sich vornehmen, sich erlauben u. a. Die 1. und 2. Person Singular und Plural stimmen mit den entsprechenden Dativformen der Personalpronomen überein.

Singular Plural
1. P. ich notiere mir 1. P. wir notieren uns
2. P. du notierst dir 2. P. ihr notiert euch
3. P. er notiert sich 3. P. sie notieren sich

„Jedenfalls habe ich mir vorgenommen, mit Ihnen in Zukunft gründlich über all diese Dinge zu sprechen...“ (B. Kellermann)

Die grammatischen Kategorien des Verbs

§ 127. Das deutsche Verb hat folgende grammatische Kategorien: die Person, die Zahl, die Zeit, das Genus, den Modus.

Die Person und die Zahl. Man unterscheidet drei Personen: die erste oder die redende, die zweite oder die angeredete, die dritte oder die Person, von der geredet wird.

Man unterscheidet zwei Zahlen (der Numerus, Pl.: die Numeri): den Singular (die Einzahl) und den Plural (die Mehrzahl). Zum Ausdruck der Zahl gibt es keine besonderen Endungen. Beides, Person und Zahl, wird durch die Personalendungen ausgedrückt. Als Höflichkeitsform dient die 3. Person Plural (im Gegensatz zur russischen Sprache, wo die 2. Person Plural als Höflichkeitsform gebraucht wird). Zum Unterschied von der 3. Person Plural wird das Personalpronomen in diesem Fall groß geschrieben. Vgl.:

sie lesen — они читают;
Sie lesen — вы читаете.

Die meisten Verben werden in allen drei Personen gebraucht: man nennt sie persönliche Verben: arbeiten, schlafen, lesen u. a. Unpersönlich nennt man dagegen Verben, die nur in der 3. Person Singular gebraucht werden: es regnet, es schneit, mir graut u. a. Manche persönlichen Verben können zuweilen auch unpersönlich gebraucht werden. Meist ist dies mit einem gewissen Bedeutungswandel verbunden. Vgl.:

Als im Treppenhaus alles still blieb, klopfte sie leise, aber hastig mehrere Male hintereinander. (W. Bredel)

Es klopfte an der Wohnungstür. Frieda Brenten horchte auf. (W. Bredel)

Spätnachmittags auf dem Nachhauseweg ging sie noch zum Kolonialwarenhändler. (W. Bredel)

„Wie geht es mit Max? Macht er seine Sache?“ (W. Bredel)

Die Zeit (das Tempus, Pl.: die Tempora). Die grammatische Kategorie der Zeit bezeichnet das Verhältnis des Zeitpunkts eines Vorgangs zum Zeitpunkt einer Aussage über diesen Vorgang. Diese Kategorie drückt auch das zeitliche Verhältnis zwischen zwei oder mehr Vorgängen aus. Man unterscheidet drei Zeitstufen: die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft. Zum Ausdruck dieser drei Zeitstufen dienen in der deutschen Sprache sechs Zeitformen: das Präsens (zum Ausdruck der Gegenwart), das Präteritum, das Perfekt, das Plusquamperfekt (zum Ausdruck der Vergangenheit), das Futur I und II (zum Ausdruck der Zukunft).

Das Genus (Pl.: die Genera) oder die Handlungsart. Die grammatische Kategorie des Genus bezeichnet die Richtung der Handlung, d. h. sie gibt an, ob die Handlung vom Subjekt des Satzes ausgeht (und auf das direkte Objekt gerichtet ist) oder ob sie auf das Subjekt gerichtet wird. Das Genus ist nur transitiven Verben eigen. Man unterscheidet zwei Genera: das Aktiv (Tätigkeitsform) und das Passiv (Leideform).

Der Modus (Pl.: die Modi) oder die Aussageweise. Durch die grammatische Kategorie des Modus wird das Verhalten des Redenden zur Realität der Aussage ausgedrückt. Man unterscheidet drei Modi: den Indikativ (Wirklichkeitsform), den Imperativ (Befehlsform) und den Konjunktiv (Möglichkeitsform).

Anmerkung. Das deutsche Verb hat zum Unterschied vom russischen keine grammatische Kategorie der Aktionsart (des Aspekts).

§ 128. Die Veränderung des Verbs nach Person, Zahl, Zeit, Modus und der transitiven Verben auch nach dem Genus nennt man die Konjugation des Verbs. Man unterscheidet in der deutschen Sprache zwei Hauptarten der Konjugation: die starke und die schwache Konjugation. Der Unterschied zwischen den beiden Konjugationsarten tritt am deutlichsten in der Form des Präteritums und des Partizips II zutage. Man bezeichnet daher diese beiden Verbalformen sowie den Infinitiv (als Ausgangsform des Verbs) als die drei Grundformen des Verbs.

Im Formenbestand des Verbs unterscheidet man zwei Gruppen:

1. das konjugierte Verb oder die Personalform des Verbs. Die Personalform des Verbs nennt man auch finites Verb (lat. verbum finitum; finitus=bestimmt): Ich lese, habe gelesen, werde lesen;

2. die nichtkonjugierten oder die Nominalformen des Verbs: der Infinitiv I und II, das Partizip I und II; sie drükken den Vorgang unbestimmt, d. h. ohne Hinweis auf die handelnde Person usw. aus. Den Infinitiv und das Partizip II nennt man als Bestandteil einer Verbalform auch infinites Verb (lat. verbum infinitum): Ich habe gelesen. Ich werde sehen. (Über die Nominalformen des Verbs s. § 172 ff).

§ 129. Nach ihrer Konjugationsart, d. h. vom morphologischen Standpunkt aus, unterscheidet man folgende Gruppen von Verben:

1. Die starken Verben. Sie bilden ihre Grundformen mittels des Ablauts (s. § 4): binden — band — gebunden; laufen — lief — gelaufen; schließen — schloß — geschlossen; im Präsens verändern manche Verben den Stammvokal e zu i (Brechung): ich nehme, du nimmst, er nimmt; andere bekommen den Umlaut: ich fahre, du fährst, er fährt; ich laufe, du läufst, er läuft; ich stoße, du stößt, er stößt. Das Partizip II bilden die starken Verben mit dem Präfix ge- und dem Suffix -en: genommen, gelaufen, gestoßen, gebunden.

2. Die schwachen Verben. Sie bilden das Präteritum mit dem Suffix -(e)te und das Partizip II mit dem Präfix ge- und dem Suffix -(e)t. Der Stamm bleibt immer unverändert: leben — lebte — gelebt, arbeiten — arbeitete — gearbeitet.

Die meisten deutschen Verben gehören zur Gruppe der schwachen Verben. Auch alle neu entstehenden Verben bilden ihre Formen nach dem schwachen Typ: erden, filmen, funken, entminen u. a.

Eine besondere Gruppe der schwachen Verben bilden die Verben brennen, kennen, nennen, rennen, senden, wenden, denken. Das e im Präsens und Infinitiv Ist durch den Umlaut des Stammvokals a entstanden. Man nennt sie Verben mit dem Präsensumlaut (zuweilen auch gemischte Verben): brennen — brannte — gebrannt; kennen — kannte — gekannt; nennen — nannte — genannt; rennen — rannte — gerannt; senden — sandte — gesandt; wenden — wandte — gewandt; denken — dachte — gedacht. Die Verben senden und wenden haben im Präteritum und Partizip II auch die Formen sendete — gesendet, wendete — gewendet.

3. Die Verben praeteritopraesentia. Das sind sechs Modalverben (dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen) und das Verb wissen. Man nennt diese Verben praeteritopraesentia, weil die alte Form des Präteritums dieser Verben im Laufe der sprachlichen Entwicklung die Bedeutung einer gegenwärtigen Handlung angenommen hat und zur Präsensform geworden ist. Deshalb haben diese Verben in der 1. und 3. Person Singular Präsens keine Personalendung (ich kann, er kann usw.). Für das Präteritum hat sich nach dem Muster des Präteritums der schwachen Verben eine neue Form gebildet: er durfte, er konnte usw.

Die schwache Form des Präteritums bewirkte die Entstehung der schwachen Form des Partizips II: gedurft, gekonnt usw. Daneben aber blieb die alte Form des Partizips II der sechs Modalverben bestehen, die mit ihrem Infinitiv übereinstimmt: dürfen, können usw.

Auch das Modalverb lassen, das von Haus aus ein starkes Verb und kein praeteritopraesentia ist, hat in Anlehnung an die übrigen Modalverben ein zweites Partizip II erhalten, das mit dem Infinitiv übereinstimmt: lassen — ließ — gelassen und lassen.

4. Die unregelmäßigen Verben. Das sind folgende Verben: sein, haben, werden, gehen, stehen, bringen, tun.

Jedes dieser Verben hat in der Bildung der Formen seine Besonderheiten. Das Verb sein ist ein suppletives Verb (s. § 6): sein — war — gewesen, ich bin, wir sind. Die Verben haben und werden verlieren in einigen Formen den Stammkonsonanten b bzw. d: haben, hatte, gehabt; du hast, er hat, sie hatten; werden, wurde, geworden; du wirst. Stehen und gehen haben im Gegensatz zum Präsensstamm im Stamm des Präteritums und des Partizips II nd bzw. ng: stehen — stand — gestanden; gehen — ging — gegangen. Bringen weist in seinen Formen sowohl Merkmale der starken als auch die der schwachen Konjugation auf: bringen — brachte — gebracht. Das Verb tun hat im Auslaut des Präteritumstamms den Konsonanten t: tun — tat — getan.

§ 130. Manche Verben haben bei gleichem Infinitiv sowohl starke als auch schwache Formen; meist ist das mit einem Bedeutungsunterschied verbunden. Das sind zum Beispiel die Verben: bewegen (tr.), bewog, bewegen — побуждать, склонять к чему-либо; bewegen (tr.), bewegte, bewegt — двигать, шевелить, растрогать; erschrecken (intr.), erschrak, erschrocken — испугаться; erschrecken (tr.), erschreckte, erschreckt — испугать; hängen (intr.), hing, gehangen — висеть; hängen (tr.), hängte (seltener: hing), gehängt — вешать; quellen (intr.), quoll, gequollen — бить ключом, набухать; quellen (tr.), quellte, gequellt — мочить, размачивать; schaffen (tr.), schuf, geschaffen — создавать, творить; schaffen (intr.; tr.), schaffte, geschafft — работать, доставлять; schleifen (tr.), schliff, geschliffen — точить, шлифовать; schleifen (tr.), schleifte, geschleift — волочить, тащить; schmelzen (intr.), schmolz, geschmolzen — таять, плавиться; schmelzen (tr.), schmelzte, geschmelzt — плавить; schwellen (intr.), schwoll, geschwollen — пухнуть, надуваться, отекать; schwellen (tr.), schwellte, geschwellt — надувать, раздувать; wiegen (tr.; intr.), wog, gewogen — взвешивать, весить; wiegen (tr.), wiegte, gewiegt — качать, баюкать.

Den Mädchen aber gefiel es so gut auf der Barke, daß sie meinen Bruder bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren. (W. Hauff)

Es war zu hören, daß Graf Dosse sich bei der Tür bewegte, das Parkett knirschte. Man konnte beobachten, daß er den Kopf wandte und die Lippen bewegte... (B. Kellermann)

...die Nacht schuf tausend Ungeheuer... (J. W. Goethe)

Vier Tage lag er im Bett, verfluchte seine verstorbene Schwester Dora und das Erbstück, das schon am ersten Tag wieder aus dem Haus geschafft worden war. (W. Bredel)

Wilhelm erstaunte über den Anblick des Kindes, ja man kann sagen, er erschrak. (J. W. Goethe)

Der Gedanke, ihn zu verlieren, erschreckte mich. (J. W. Goethe)

Einige Verben mit doppelten Grundformen weisen keinen wesentlichen Bedeutungsunterschied auf. Das sind zum Beispiel: gären (intr.): gor — gegoren und gärte — gegärt (nur in übertragener Bedeutung); glimmen (intr.): glomm — geglommen (meist in übertragener Bedeutung) und glimmte — geglimmt; weben (tr.): wob — gewoben (jetzt nur noch poetisch) und webte — gewebt. Die neuen, schwachen Formen sind gebräuchlicher.

Manche ursprünglich starken Verben haben heute einzelne schwache Formen angenommen. So weisen die Verben mahlen, salzen, spalten ein schwaches Präteritum neben einem starken Partizip II auf: mahlen — mahlte — gemahlen; salzen — salzte — gesalzen; spalten — spaltete — gespalten (oft auch schon: gesalzt, gespaltet).

Die Verben backen und hauen haben im Präteritum Doppelformen: backen — buk und backte — gebacken; hauen — hieb und haute — gehauen.

Die Kategorie der Zeit

Bildung der Zeitformen des Indikativs

§ 131. Das Präsens. Das Präsens wird von dem Infinitivstamm mittels der Personalendungen gebildet. Alle Verben (außer sein, werden und den Verben praeteritopraesentia) weisen dasselbe System der Personalendungen auf:

Singular 1. P. -e ich lern-e komm-e nenn-e geh-e leit-e
2. P. -(e)st du lern-st komm-st nenn-st geh-st leit-est
3. P. -(e)t er (sie, es) lern-t komm-t nenn-t geh-t leit-et
Plural 1. P. -en wir lern-en komm-en nenn-en geh-en leit-en
2. P. -(e)t ihr lern-t komm-t nenn-t geh-t leit-et
3. P. -en sie lern-en komm-en nenn-en geh-en leit-en

Die schwachen Verben, deren Stamm auf t, d, chn, dn, ffn, gn, tm auslautet, bekommen die Personalendungen -est und -et: leiten, warten, reden, zeichnen, ordnen, öffnen, begegnen, atmen u. a. Auch starke Verben auf d bzw. t mit i(ie) bzw. ei im Stamm erhalten die gleichen Personalendungen: bieten, binden, bitten, finden, gleiten, leiden, meiden, reiten, schneiden, scheiden, sieden, streiten, winden u. a. Die Verben mit einem Zischlaut im Auslaut (s, ss, ß, z, tz) haben in der 2. Person Singular Doppelformen. Dazu gehören die Verben: blasen, essen, genesen, genießen, gießen, hassen, heißen, heizen, lassen, messen, preisen, rasen, reizen, reißen, schießen, sitzen, stoßen u. a. Vgl.: du ißt — issest, du genießt — genießest; du sitzt — sitzest; du heizt — heizest. Die kürzere Form ist gebräuchlicher.

Die starken Verben mit a im Stamm (außer schaffen) bekommen in der 2. und 3. Person Singular den Umlaut. Dazu gehören die Verben: blasen, fahren, fallen, fangen, graben, halten, lassen, raten, schlafen, schlagen, tragen, wachsen, waschen u. a. Den Umlaut bekommen auch die Verben laufen, saufen, stoßen. Vgl.: ich trage, laufe, stoße; du trägst, läufst, stößt; er trägt, läuft, stößt.

Die meisten starken Verben mit dem Stammvokal e verändern in der 2. und 3. Person Singular das e zu i bzw. ie (Brechung). Dazu gehören die Verben: befehlen, bergen, brechen, empfehlen, essen, geben, gelten, geschehen, helfen, lesen, messen, nehmen, sehen, sprechen, schmelzen, stechen, stehlen, sterben, treffen, treten, verderben, vergessen, werfen u. a. Vgl.: ich befehle, helfe; du befiehlst, hilfst; er befiehlt, hilft. Auch die Verben erlöschen und gebären haben in der 2. und 3. Person Singular ein i(ie): du erlischst, gebierst (auch: gebärst), sie erlischt, gebiert (auch: gebärt).

Starke Verben, deren Stamm auf t auslautet und deren Stammvokal a bzw. e sich in der 2. und 3. Person Singular verändert, bekommen in der 2. Person Singular die Personalendung -st, in der 2. Person Plural -et, in der 3. Person Singular verschmilzt die Personalendung mit dem Stamm -t. Das sind die Verben braten, halten, raten, fechten, flechten, gelten, schelten, treten. Vgl.:

ich halte, flechte wir halten, flechten
du hältst, fliehst ihr haltet, flechtet
er hält, flicht sie halten, flechten

Merke: Die Verben nehmen und treten verändern das lange e zu einem kurzen i: ich nehme, trete; du nimmst, trittst; er nimmt, tritt.

Manche starken Verben verändern in der 2. und 3. Person Singular ihr Stamm -e nicht: bewegen, heben, genesen, weben u. a. Dies gilt auch von den unregelmäßigen Verben gehen und stehen: ich bewege, hebe, gehe; du bewegst, hebst, gehst; er bewegt, hebt, geht.

Das Verb laden hat in der 2. und 3. Person Singular Doppelformen: du ladest — lädst; er ladet — lädt.

Das Präsens der Verben praeteritopraesentia
dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen, wissen

Singular 1. P. ich darf kann mag muß soll will weiß
2. P. du darfst kannst magst mußt sollst willst weißt
3. P. er darf kann mag muß soll will weiß
Plural 1. P. wir dürfen können mögen müssen sollen wollen wissen
2. P. ihr dürft könnt mögt müßt sollt wollt wißt
3. P sie dürfen können mögen müssen sollen wollen wissen

Präsens der unregelmäßigen Verben
sein, haben, werden, tun

Singular 1. P. ich bin habe werde tue
2. P. du bist hast wirst tust
3. P. er ist hat wird tut
Plural 1. P. wir sind haben werden tun
2. P. ihr seid habt werdet tut
3. P sie sind haben werden tun

§ 132. Das Präteritum (Imperfekt). Im Präteritum erhalten die Verben Personalendungen, die 1. und die 3. Person Singular ausgenommen:

Singular 1. P. - ich sagte- kam-
2. P. -st du sagte-st kam-st
3. P. - er sagte- kam-
Plural 1. P. -(e)n wir sagte-n kam-en
2. P. -(e)t ihr sagte-t kam-t
3. P -(e)n sie sagte-n kam-en

Die Personalendungen werden dem Präteritumstamm beigefügt. Der Präteritumstamm der schwachen Verben wird aus dem Präsensstamm und dem Suffix -(e)te gebildet: sag-en — sag-te, frag-en — frag-te usw. Das Suffix -ete bekommen die schwachen Verben, deren Stamm auf t, d, chn, dn, ffn, gn, tm auslautet (vgl. § 131): wart-en — wart-ete, zeichn-en — zeichn-ete usw.

Der Präteritumstamm der starken Verben wird mit dem Ablaut gebildet: kommen — kam, schreiben — schrieb, fahren — fuhr, laufen — lief usw.

Die Verben praeteritopraesentia bilden den Präteritumstamm mit dem Suffix -te und verändern den Stammvokal (außer sollen und wollen): dürfen — durfte, können — konnte, mögen — mochte, müssen — mußte, sollen — sollte, wollen — wollte, wissen — wußte.

Die unregelmäßigen Verben haben folgenden Präteritumstamm: sein — war, haben — hatte, werden — wurde, stehen — stand, gehen — ging, bringen — brachte, tun — tat.

Das Präsens und das Präteritum sind einfache Zeitformen, d. h. sie werden durch eine Verbalform ausgedrückt: er macht — er machte, er liest — er las. Die übrigen vier Zeitformen werden aus zwei oder mehr Verbalformen gebildet. Zur Bildung der zusammengesetzten Zeitformen dienen die Hilfsverben haben, sein, werden. Das Vollverb steht in einer infiniten Verbalform: im Partizip II oder im Infinitiv.

§ 133. Das Perfekt. Das Perfekt wird mit dem Hilfsverb haben bzw. sein im Präsens und dem Partizip II des entsprechenden Verbs gebildet. (Über die Bildung des Partizips II s. § 183.)

  sagen kommen
Singular 1. P. ich habe gesagt ich bin gekommen
2. P. du hast du bist
3. P. er hat er ist
Plural 1. P. wir haben wir sind
2. P. ihr habt ihr seid
3. P. sie haben sie sind

Die Wahl des Hilfsverbs hängt meist von der Bedeutung des Vollverbs ab. Die Mehrheit der Verben wird mit haben konjugiert. Hierzu gehören: 1) alle transitiven Verben: ich habe gelesen, er hat erzählt, sie haben genommen, ich habe gehabt; 2) alle Verben mit sich: ich habe mich gesetzt, ich habe mir die Hände gewaschen; 3) alle unpersönlichen Verben: es hat geregnet, es hat gedonnert, es hat mir gegraut; 4) viele intransitive Verben: a) Verben, die einen Zustand, ein Gefühl, einen Vorgang in seinem Verlauf ausdrücken: ich habe geschlafen, er hat gefroren, wir haben gearbeitet; b) die objektiven Verben: ich habe geholfen, er hat gratuliert, wir haben gestritten; 5) die Modalverben: ich habe gemußt, er hat gewollt.

Mit sein konjugiert man: 1. intransitive Verben, die eine Bewegung oder den Übergang von einem Zustand zu einem ändern bezeichnen: ich bin gegangen, wir sind gekommen; er ist aufgestanden, er ist eingeschlafen;

Anmerkung. Wenn das Ziel oder die Richtung der Bewegung nicht angegeben ist, so können die meisten Verben der Bewegung auch mit haben konjugiert werden; dazu gehören: eilen, fliegen, hüpfen, kriechen, marschieren, reiten, rudern, schwimmen, segeln, springen, wandern, waten u. a.

So hatte ich genug geschwommen, hatte meine Strecke heruntergeschwommen. (J. R. Becher)

2. die Verben begegnen, bleiben, gedeihen, gelingen, glükken, geschehen, mißlingen, passieren (d. h. geschehen), sein, werden.

§ 134. Das Plusquamperfekt. Das Plusquamperfekt wird mit dem Hilfsverb haben bzw. sein im Präteritum und dem Partizip II des entsprechenden Verbs gebildet.

  sagen kommen
Singular 1. P. ich hatte gesagt ich war gekommen
2. P. du hattest du warst
3. P. er hatte er war
Plural 1. P. wir hatten wir waren
2. P. ihr hattet ihr wart
3. P. sie hatten sie waren

Bei der Wahl des Hilfsverbs gelten die im vorausgehenden Paragraphen (§ 133) festgelegten Regeln.

§ 135. Bei der Bildung des Perfekts und des Plusquamperfekts der Modalverben sind folgende Regeln zu beachten:

1. Tritt zum Modalverb im Satz ein anderes Verb im Infinitiv, so wird die starke Form des Partizips II gebraucht.

„Dein ganzes Leben hast du schwer arbeiten müssen.“ (W. Bredel)

Meister Xavier... hatte ihn bisher nicht zum Reden bringen können. (W. Bredel)

2. Tritt zum Modalverb kein anderes Verb im Infinitiv, so wird die schwache Form des Partizips II gebraucht.

Er hatte schon am folgenden Tag aus der Stadt gemußt. (A. Seghers)

Rede, was hast du da oben gewollt? (W. Bredel)

Anmerkung. In Anlehnung an den Gebrauch der starken Form des Partizips II der Modalverben, die mit dem Infinitiv dieser Verben übereinstimmt, kann bei einigen anderen Verben, zu denen häufig ein Verb im Infinitiv tritt, im Perfekt und Plusquamperfekt statt des Partizips II die Form des Infinitivs stehen. Das sind die Verben hören, sehen, fühlen, brauchen, helfen, lernen.

Man hatte das Schiff vor dem Tor des Hangars liegen sehen. (A. Seghers)

... er hatte auf jedes Geräusch gehorcht, er hatte die Büttel im Geist oft ankommen hören... (A. Seghers)

Hans hat nicht einmal viel an meinem Manuskript zu verbessern brauchen. (E. Brüning)

§ 136. Das Futur I und das Futur II. Das Futur I wird mit dem Hilfsverb werden im Präsens und dem Infinitiv I des entsprechenden Verbs gebildet.

Singular 1. P. ich werde sagen, kommen Plural 1. P. ich werden sagen, kommen
2. P. du wirst 2. P. du werdet
3. P. er wird 3. P. er werden

Das Futur II wird mit dem Hilfsverb werden im Präsens und dem Infinitiv II des entsprechenden Verbs gebildet. (Über die Bildung des Infinitivs II s. § 173.)

Singular 1. P. ich werde gesagt haben,

gekommen sein
Plural 1. P. wir werden gesagt haben,

gekommen sein
2. P. du wirst 2. P. ihr werdet
3. P. er wird 3. P. sie werden

Gebrauch der Zeitformen des Indikativs

§ 137. Die Zeitformen werden absolut und relativ gebraucht. Beim absoluten Gebrauch der Zeitformen bezieht sich der Vorgang auf eine der drei Zeitstufen, auf die Gegenwart, die Vergangenheit oder die Zukunft.

Heute ist Sonntag. Die Sonne scheint, aber es ist sehr kalt. (J. Brezan)

Hardekopf kam an einen wunderschönen Augustsonntag des Jahres 1879 in Hamburg an. (W. Bredel)

„Du kannst ganz ruhig schlafen. Ich werde dich wekken.“ (A. Seghers)

Der relative Gebrauch der Zeitformen setzt das Vorhandensein von mindestens zwei Vorgängen voraus: der eine Vorgang steht in einem bestimmten zeitlichen Verhältnis zu dem anderen. Der relative Gebrauch der Zeitformen geschieht immer in Verbindung mit ihrem absoluten Gebrauch: die Zeitformen bezeichnen eine Handlung als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig (absolute Bedeutung) und zugleich als gleichzeitig oder nichtgleichzeitig (relative Bedeutung).

Das zeitliche Verhältnis zwischen den Vorgängen kann von zweierlei Art sein:

1. Beide Vorgänge beziehen sich auf die gleiche Zeitstufe (das Verhältnis der Gleichzeitigkeit). Die Gleichzeitigkeit wird meist durch dieselbe Zeitform ausgedrückt (Präsens+ Präsens, Präteritum + Präteritum, Plusquamperfekt + Plusquamperfekt usw.), zuweilen auch durch verschiedene Zeitformen derselben Zeitstufe (Präteritum + Perfekt, Präsens + Futur I usw.).

Er lag seinem Sohne gegenüber, der aufgerichtet in seinem Bett saß... (W. Bredel)

Das Lager war ja aufgebaut worden, als er ein Knabe gewesen war. (A. „ Seghers)

„Herr Cornmodore!“ rief Marion lachend. „Ich sehe, daß ich den Herren im Wege bin.“ (B. Kellermann)

Die Straße hat sich immer geschmückt und hat gejubelt, wenn der Freund durchmarschierte, sie hat aufgebrüllt und die Zähne gezeigt, wenn der Gegner sie zwingen wollte. (J. Petersen)

Der Gedanke an Christa war das Quälendste für Frau Beate, als sie im Auto rasch dahinfuhr. Sie wird einen hübschen Schreck bekommen, wenn sie nach Hause kommt! (B. Kellermann)

2. Einer der Vorgänge vollzieht sich früher als der andere (das Verhältnis der Nichtgleichzeitigkeit). Die Nichtgleichzeitigkeit wird im Deutschen durch besondere grammatische Mittel, nämlich durch verschiedene Zeitformen bezeichnet. Die Vorzeitigkeit in der Vergangenheit wird mittels des Plusquamperfekts in Verbindung mit dem Präteritum (seltener dem Perfekt) ausgedrückt.

Martin stand abends wieder mit seinem Koffer in Berlin an der Sperre. Der Koffer war unterwegs schwerer geworden; er sah sich nach einem Träger um. Hans schoß auf ihn zu. Er, Martin, hatte den Jungen vergessen. Hans trug ihm mit zusammengebissenen Zähnen den Koffer aus dem Bahnhof... (A. Seghers)

Nachdem ihn die Kreß vor einer Wirtschaft abgesetzt hatten, ging Georg nach kurzem Nachdenken, statt in die Tür hinein, zum Main hinunter. (A. Seghers)

Die Vorzeitigkeit in der Zukunft wird mittels des Perfekts (seltener des Futurs II, s. § 144) in Verbindung mit dem Futur I oder dem Präsens ausgedrückt.

„Nun, er wird ruhiger werden, wenn ich ihn erst verheiratet habe.“ (H. Mann)

„Und wenn du meinen ersten Satz gehört haben wirst, so wirst du ruhiger werden.“ (Th. Fontäne)

§ 138. Das Präsens bezeichnet in erster Linie einen Vorgang in der Gegenwart. Es kann aber auch zur Bezeichnung der übrigen zwei Zeitstufen, der Vergangenheit und der Zukunft, gebraucht werden. Das Präsens dient:

1. zur Wiedergabe eines gegenwärtigen Geschehens (die Hauptbedeutung des Präsens);

„Na, das weißt du doch besser als ich“, sagte Röder. (A. Seghers)

„Ich bin wirklich glücklich, Sie zu Hause getroffen zu haben“, sagte Charlotte... (B. Kellermann)

2. zur Wiedergabe eines allgemeingültigen Vorgangs (allgemeine Feststellungen, Sprichwörter usw.);

Moskau ist die Hauptstadt der Sowjetunion.

Die Natur ist die Probe auf die Dialektik... (F. Engels)

Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist. (Sprichwort)

Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles. (J. W. Goethe)

3. zur Wiedergabe eines zukünftigen Geschehens (namentlich im umgangssprachlichen Gebrauch), meist in Verbindung mit entsprechenden Zeitangaben;

„Lassen Sie mich mit Ihrem Tische in Ruhe!... In acht Tagen hole ich mir Antwort.“ (Th. Mann)

„Und morgen fahren wir beide zusammen nach Hause.“ (J. Brezan)

4. zur Wiedergabe eines vergangenen Geschehens bei lebhafter, anschaulicher Schilderung, im Wechsel mit dem Präteritum (das Präsens der belebten Erzählungen, praesens historicum).

Vor seinem Löwengarten, | Das Kampfspiel zu erwarten, | Saß König Franz... | Und wie er winkt mit dem Finger, | Auftut sich der weite Zwinger, | Und hinein mit bedächtigem Schritt | Ein Löwe tritt... (F. Schiller)

Während ich so in Andacht versunken stehe, höre ich, daß neben mir jemand ausruft: „Wie ist die Natur doch im allgemeinen so schön!“ Diese Worte kamen aus der gefühlvollen Brust meines Zimmergenossen, des jungen Kaufmanns. (H. Heine)

Frau Hardekopf sollte noch eine Weihnachtsüberraschung erleben. Am Nachmittag des zweiten Festtages tritt ihr Sohn Ludwig... in die Tür, und mit ihm eine Frau... Frau Hardekopf bleiben vor Überraschung und Staunen die Worte in der Kehle stecken. Sie erhebt sich schwerfällig. (W. Bredel)

§ 139. Das Präteritum dient zur Wiedergabe von vergangenen Handlungen und Zuständen in einer Erzählung, einer Schilderung, einem Bericht (die Hauptbedeutung des Präteritums). Die Vorgänge können dabei zu gleicher Zeit geschehen oder aufeinander folgen.

Die Frauen standen zusammen, redeten, schüttelten die Köpfe, schimpften auf die Männer, auf deren Saufereien, verbreiteten Gerüchte... (W. Bredel)

Fahrenberg fuhr zusammen. Er zog den Unterkiefer ein. Dann zog er sich mit ein paar kurzen Griffen fertig an. Er fuhr mit der feuchten Bürste über sein Haar, er putzte sich die Zähne. Er trat neben Zillich, sah auf den schweren Nacken herunter, und sagte... (A. Seghers)

§ 140. Das Perfekt bezeichnet gleichfalls einen Vorgang in der Vergangenheit. Es steht in kurzen Berichten, Mitteilungen (daher oft im Gespräch, im Dialog), bei der Feststellung von Tatsachen, oft auch zum Hervorheben eines Gedankens, der besonders wichtig ist. Das Perfekt bezeichnet häufig eine vergangene Handlung, deren Folgen für die Gegenwart von Bedeutung sind.

Ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet... (K. Marx/F. Engels)

„Die Revolution hat gesiegt. Der Sozialismus marschiert!“ (W. Bredel)

Ein paar Stunden später fuhr er hoch. Er wußte nicht, wo er war. „Ich habe dich aufgeweckt“, sagte sie, „ich hab’ dich ja aufwecken müssen. Ich hab’ das ja nicht mehr mit anhören können. Meine Tante wird ja auch wach.“ — „Hab’ ich denn geschrien?“ — „Du hast gestöhnt und geschrien. Schlaf und sei ruhig.“ (A. Seghers)

...und lustig stieg er hinab auf das Brett, das über dem Bach lag, riß das Kätzchen aus dem Wasser, fiel aber selbst hinein, und als man ihn herauszog, war er naß und tot. Das Kätzchen hat noch lange Zeit gelebt. (H. Heine) (Über den relativen Gebrauch des Perfekts s. § 137.)

§ 141. Das Präteritum und das Perfekt können beide sowohl eine vollendete, abgeschlossene, als auch eine vergangene dauernde Handlung ausdrücken, denn das deutsche Verb kennt die grammatische Kategorie der Aktionsart nicht. Die Aktionsart des Verbs wird durch die Situation, den Inhalt bedingt und oft durch lexikalische Mittel näher bestimmt. Vgl.:

Er bekam sogar endlich Nachricht von seiner Frau. (A. Seghers) Он даже получил, наконец, письмо от своей жены. (сов. вид)
„Ich habe einmal die Frau dieses Dupont getroffen, der mit Dir in einer Zelle lag. Warum hast Du mir nur gerade diese Person empfohlen? Sie hat von nichts anderem gesprochen als von der Staatspension... (A. Seghers) Я как-то раз встретила (сов. вид) жену этого Дюпона, который сидел (несов. вид) с тобой в одной камере. Почему ты мне рекомендовал (сов. вид) именно эту особу? Она только и говорила (несов. вид), что о государственной пенсии...
Diese Worte riefen einen Sturm der Entrüstung hervor. Die einen schrien über Sabotage der Wahlarbeit und beschworen die Genossen, Eintracht zu wahren und nicht übereinander herzufallen; die ändern empörten sich über die Redakteure... Hardekopf blickte hilflos in den Lärm. Sein umherirrender Blick traf den Friedrich Almers, der vorwurfsvoll den Kopf schüttelte. (W. Bredel) Эти слова вызвали (сов. вид) бурю возмущения. Одни кричали (несов. вид), что это срыв предвыборной кампании, и заклинали (несов. вид) товарищей не нарушать единства и не устраивать грызни; другие возмущались (несов. вид) редакторами... Хардекопф беспомощно смотрел (несов. вид) на кричавших людей. Его блуждающий взгляд встретился (сов. вид) с глазами Фридриха Альмера, который укоризненно покачал (сов. вид) головой.

§ 142. Das Plusquamperfekt bezeichnet gleichfalls einen Vorgang in der Vergangenheit und wird in der Regel relativ gebraucht. Es drückt die Vorzeitigkeit in der Vergangenheit aus; dabei dient das Plusquamperfekt meist zur Bezeichnung eines Vorgangs, der erst erwähnt wird, nachdem

andere, zeitlich später geschehene Vorgänge genannt worden sind. Die Geschehnisse werden somit in einer anderen Reihenfolge geschildert, als sie tatsächlich vor sich gegangen sind.

Ich war wie zerschlagen, durstig und hungrig auch noch; ich hatte seit dem vorigen Morgen nichts gegessen. (A. Chamisso)

Marat blieb, als der Freund ihn verlassen hatte, noch lange mit dieser Frage beschäftigt. (W. Bredel)

Das Zentralkomitee war in einem kleinen Haus auf einem Gut nordwestlich von Ho-schan versammelt, um das neue Programm zu bestätigen, das Liau Han-sin dem Südkomitee überbringen sollte. Es war keine leichte Arbeit gewesen, den für die letzte Beratung geeigneten Ort ausfindig zu machen. Die Wahl war schon zweimal schiefgegangen. Sie hatten zuerst in Schanghai eine geeignete Wohnung bestimmt. Die Polizei hatte plötzlich das ganze Viertel gesperrt und ausgekämmt. Sie griff besonders präzis und scharf zu, seitdem Tschiang Kai-schek auch deutsche Beamte und Offiziere nach China gerufen hatte, um bei der Umschulung seiner Armee zu helfen... Das Häuschen, in dem sie jetzt saßen, lag abgesondert von dem Hauptgebäude. Der Gutsherr hatte es seinem Freund überlassen, dem Literaturprofessor B., dem Hauslehrer seiner Söhne. Er war mit der ganzen Familie in seine Sommervilla ans Meer gefahren. B. stand im geheimen mit dem Zentralkomitee in Verbindung. (A. Seghers)

Diese Regel gilt nicht für Satzgefüge mit Nebensätzen, die durch nachdem, als oder seitdem (seit) eingeleitet werden, wenn der Nebensatz dem Hauptsatz vorausgeht. In diesem Fall wird der früher geschehene Vorgang (im Plusquamperfekt) auch zuerst genannt.

Als er seine Rede beendet hatte, zogen die Delegierten der Großbetriebe in bewaffneten Formationen an der Tribüne vorüber. (A. Seghers)

Nachdem der Alte Hut und Stock in die Ecke gestellt hatte, setzte er sich in den Lehnstuhl... (Th. Storni)

Da das Plusquamperfekt als relativ gebrauchte Zeitform einen Vorgang bezeichnet, der vor anderen geschehen ist, erhält es häufig die Bedeutung einer vollendeten Handlung.

Dabei ist diese Bedeutung manchmal so wichtig, daß sie die relative zeitliche Bedeutung in den Hintergrund drängt.

Er wünschte gute Nacht beisammen. Er war im Handumdrehen verschwunden. Man wunderte sich über den formlosen Abschied... (A. Seghers)

Friedrich Christensen hatte seinen morgendlichen Rundgang beendet. Er stand in der Bucht und sah über das Meer, auf dessen weiter Ebene sich keine Rauchfahne und kein Segel zeigte. (B. Uhse)

Während er diesen Satz diktierte, seufzte er einmal tief auf, sein Kopf fiel auf die Seite, er sank zusammen, er war gestorben. (R. Leonhard)

§ 143. Das Futur I bezeichnet eine zukünftige Handlung.

„Du kannst ganz ruhig schlafen. Ich werde dich wekken.“ (A. Seghers)

„Jetzt muß Alice, singen!“ sagte Paul Papke. „Das wird die Stimmung heben.“ (W. Bredel)

(Über den Ausdruck der Zukunft mittels des Modalverbs wollen mit dem Infinitiv I s. § 168).

Im relativen Gebrauch bezeichnet das Futur I die Gleichzeitigkeit in der Zukunft.

„Und wenn ich werde reden können“, sagte er mit gebrochner Stimme, „werde ich Ihnen danken.“ (J. W. Goethe)

§ 144. Das Futur II bezeichnet gleichfalls eine zukünftige Handlung und wird relativ gebraucht. In Verbindung mit dem Futur I bzw. dem Präsens drückt es die relative Zukunft aus:

„Du wirst es schaffen!“ sagte sie leise. „Aber wenn du es geschafft haben wirst, werde ich nicht mehr bei dir sein.“ (H. Fallada)

„Und nachdem ich den Doktor gemacht haben werde, suche ich im Ausland eine mir zusagende Stellung...“ (L. Frank)

Das Futur II wird immer häufiger durch das Perfekt verdrängt, das in Verbindung mit dem Futur I bzw. dem Präsens die relative Zukunft bezeichnet.

„Du, jetzt laß ich dich nicht mehr los, bevor du mir nicht alles gesagt hast!“ (J. R. Becher)

Da das Futur II als relativ gebrauchte Zeitform einen Vorgang bezeichnet, der vor einem anderen geschehen ist, erhält es zuweilen die Bedeutung einer vollendeten Handlung.

„Ihr habt euch ja schon öfter gezankt, nimm es nicht so schwer, Raoul. In zwei, drei Tagen werdet ihr euch wie gewöhnlich ausgesöhnt haben. Ich werde zu Olga gehen.“ (B. Kellermann)

Anmerkung. Das Futur I und namentlich das Futur II werden auch mit modaler Bedeutung gebraucht (s. § 228).

Die Kategorie des Genus

§ 145. Man unterscheidet zwei Genera: das Aktiv und das Passiv (s. § 127). Die Form des Aktivs weist darauf hin, daß die Handlung von der Person bzw. dem Ding ausgeht, welche im Satz als Subjekt auftreten. Die Form des Passivs weist darauf hin, daß die Handlung auf die Person bzw. das Ding gerichtet wird und nicht von ihnen ausgeht; im Satz treten sie gleichfalls als Subjekt auf. Vgl.:

Walter öffnete die Bodentür... (W. Bredel)

Die Zelle wurde geöffnet. (W. Bredel)

Manche transitiven Verben bilden kein Passiv: haben, besitzen, bekommen, kennen, wissen, erfahren, kosten (стоить), interessieren, enthalten.

§ 146. Das Passiv weist dieselben sechs Zeitformen und zwei Formen des Infinitivs auf wie das Aktiv. Alle sechs Zeitformen des Passivs sind zusammengesetzte Verbalformen. Sie werden mit dem Hilfsverb werden in der entsprechenden Zeitform des Indikativs und dem Partizip II des Vollverbs gebildet. Präsens: er wird gefragt, Präteritum: er wurde gefragt, Futur I: er wird gefragt werden.

Im Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II des Indikativs Passiv wird die alte Form des Partizips II von werden worden (vgl. geworden) gebraucht. Perfekt: er ist gefragt worden, Plusquamperfekt: er war gefragt worden, Futur II: er wird gefragt worden sein.

Die beiden Formen des Infinitivs Passiv sind gleichfalls zusammengesetzte Verbalformen.

Der Infinitiv I Passiv wird gebildet mit dem Hilfsverb werden im Infinitiv I Aktiv und dem Partizip II des Vollverbs (hier des Verbs fragen): gefragt werden. Der Infinitiv II Passiv wird gebildet mit dem Hilfsverb werden im Infinitiv II Aktiv und dem Partizip II des Vollverbs. Dabei wird im Infinitiv II Aktiv von werden gleichfalls die alte Form des Partizips II worden gebraucht: gefragt worden sein.

Der Infinitiv Passiv wird im Satz ebenso wie der Infinitiv Aktiv gebraucht: mit Modalverben, in Infinitivgruppen usw.

Ein Entschluß mußte gefaßt werden, denn die Ankunft des Holländers stand bevor. (H. Mann)

...ich hatte die Ehre, in den Park gerufen zu werden... (A. Chamisso)

Herausgerissen werden aus der Familie, aus dem Dorf, aus einer schrecklich beschränkten, aber doch gewohnten Welt, das bedeutet im Alter von dreizehn Jahren einen gefährlichen Sprung ins Ungewisse. (A. Scharrer)

§ 147. Das Passiv wird meist gebraucht, wenn im Satz nicht die handelnde Person bezeichnet werden soll, sondern das Objekt der Handlung. Einen Hinweis auf den Urheber der Handlung enthält solch ein Satz nicht.

Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. (K. Marx/F. Engels)

Nun werden Pläne geschmiedet. (W. Bredel)

Solch ein Satz enthält das sogenannte zweigliedrige Passiv.

Bedeutend seltener kommen Sätze vor, in denen neben dem Objekt der Handlung auch die handelnde Person bezeichnet wird. In diesem Fall spricht man von dem dreigliedrigen Passiv.

Der Urheber der Handlung wird im Satz durch eine präpositionale Gruppe mit von bzw. durch bezeichnet. Von gebraucht man, wenn der Urheber der Handlung als aktiv handelnde Person (manchmal auch metaphorisch) gedacht wird.

Diederich auf seinem schattigen Posten war von Wolfgang Bück entdeckt worden. (H. Mann)

Als Christian Nadler... auf den Feldweg abbog, wurde er von dem Trupp Arbeiter überholt... (A. Seghers)

...und plötzlich wurden die Mädchen von Entsetzen ergriffen... (H. Mann)

Und alle im Depot wurden von rasender Wut erfaßt... (A. Seghers)

Durch gebraucht man, wenn der Urheber der Handlung diese nicht besonders zielsicher oder auch gänzlich unbewußt hervorruft, d. h. mehr Ursache oder Anlaß zur Handlung als handelnde Person ist.

Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum ersten Mal im tiefsten erschüttert. (J. W. Goethe)

Er war sich bewußt, daß alle im geheimen gespannt warteten, mit wem er verabredet war. Die Neugierde wurde durch das junge Mädchen befriedigt, das in einer Ecke aufstand. (A. Seghers)

Anmerkung. Sätze mit dem Passiv kommen zuweilen ihrer Bedeutung nach Sätzen mit dem Pronomen man als Subjekt nahe. Vgl.:

Magda sang das Lied vom „Großen Franz“, als die Wirtin ans Telephon verlangt wurde. (J. R. Becher) Aus dem Vorzimmer bitte man Clerk an den Apparat. (F. Wolf)
Nie wurde gesagt, wo sie geblieben waren... (H. Fallada) Man sagt, das seien die Herdenglöckchen, die im Harz so lieblich klar und rein gestimmt sind. (H. Heine)

§ 148. Das unpersönliche Passiv. Das zweigliedrige Passiv drückt die Handlung und deren Objekt aus, ohne daß die handelnde Person im Satz erwähnt wird. Es gibt auch Sätze, in denen weder die handelnde Person noch das Objekt der Handlung genannt wird, so daß die ganze Aufmerksamkeit auf die Handlung gerichtet ist. Solche Sätze sind unpersönlich. Die passive Form des Verbs drückt hier die grammatische Kategorie des Genus nicht aus, denn es gibt im Satz kein Objekt, auf das sich die Handlung beziehen könnte. Das gibt die Möglichkeit, das unpersönliche Passiv auch von intransitiven Verben zu bilden.

Nebenan wurde geflüstert. (A. Seghers)

Dann wurde wieder von außen gegen das Tor getrommelt. (A. Seghers)

Die Anfangsstellung in den unpersönlichen Sätzen nimmt oft das Formwort es ein.

Die Sieger richteten sich ein. Es wurde viel telefoniert und telegrafiert, viel geschrien und viel gefeiert... (R. Leonhard)

...es wurde nicht nur von Hilfe geredet, es wurde tatsächlich geholfen. (W. Bredel)

Die Kategorie des Modus

§ 149. Der Indikativ. Der Indikativ wird gebraucht, wenn der Redende von der Realität des Gesagten überzeugt ist oder es als real darstellen will.

Martha öffnete die Tür, da sie die Klingel auf dem Korridor gehört hatte. (B. Kellermann)

Fabian erhob sich und machte einige Schritte durchs Zimmer. (B. Kellermann)

(Über Bildung und Gebrauch der Zeitformen des Indikativs s. §§ 131–144.)

§ 150. Der Imperativ. Der Imperativ dient zum Ausdruck eines Befehls, einer Aufforderung, eines Verbots, einer Bitte, die an die zweite, die angeredete Person gerichtet werden.

Die Bildung des Imperativs. Der Imperativ hat vier Formen. Drei davon gelten für die zweite Person im Singular bzw. im Plural; die vierte Form schließt außerdem noch den Redenden ein. Der Imperativ wird aus dem Präsensstamm gebildet; dabei bekommt die Form des Singulars die Endung -e: lern-e! arbeit-e! entschuldig-e! frag-e! lauf-e! schäm-e dicht schreib-e um! trag-e!

Fliehe dahin, Zeit, eile dich doch! (H. Fallada)

Der Junge ... rief auf der Treppe nochmals zurück: „Kümmere dich um die Emmi!“ (A. Seghers)

Bei den starken Verben und in der Umgangssprache auch bei den schwachen tritt häufig die endungslose Form auf: bleibt lauf! geh weg! steh auf! schäm dich! hör auf! sag!

„So leg dich doch endlich“, sagte er, „stell die Tasse ans Bett.“ (A. Seghers)

Er sagte: „Liesel, wasch dein Gesicht mit Essigwasser, zieh dich um, dann kommen wir immer noch rechtzeitig auf den Sportplatz...“ (A. Seghers)

Ohne e bilden den Imperativ des Singulars nur: a) die Verben, die den Stammvokal e zu i bzw. ie verändern: gib! hilf! lies! sieh zu! nimm dich zusammen! b) die Verben kommen und lassen: komm! laß!

Am Nachbartisch drehte einer Zigaretten: „Gib mir so’n Ding, Kamerad.“ (A. Seghers)

Benimm dich mal etwas vernünftig“, erwiderte Frieda. (W. Bredel)

Komm, Lotte“, sagte Franz... (A. Seghers)

Die Formen des Plurals entsprechen der 1., 2. bzw. 3. Person Plural des Präsens Indikativ, dabei wird im ersten und dritten Fall das Personalpronomen dem Verb nachgestellt und im zweiten überhaupt nicht gebraucht: bleiben wir! bleibt! bleiben Sie! gehen wir mit! geht mit! gehen Sie mit! beeilen wir uns! beeilt euch! beeilen Sie sich!

„Schön, gehen wir zu deiner Mutter!“ sagte er. (W. Bredel)

Macht, was ihr wollt“, herrscht sie ihn an, „aber nicht hier in meiner Wohnung, verstanden?“ (W. Bredel)

Gehen Sie an Ihre Arbeit, Kreß, oder was Sie sonst vorhaben“, sagte Georg... (A. Seghers)

Die Imperativform mit wir drückt eine Aufforderung an eine oder mehrere Personen aus, wobei auch der Redende mit eingeschlossen wird. Die Form mit Sie ist die Höflichkeitsform des Imperativs; sie kann sowohl an eine als auch an mehrere Personen gerichtet werden. Vgl.:

Sagen Sie es mir doch bitte gleich“, bat Pagel. „Ich bin unruhig. Seien Sie“, sprach er, „seien Sie nicht unmenschlich. Quälen Sie mich nicht. Sagen Sie ja.“ — „Ich bin nicht unmenschlich“, antwortete der Sekretär, „ich bin Beamter.“ (H. Fallada)

Der Bürgermeister hob flehend die Arme. „Meine Herren! Verkennen Sie mich nicht, ich bin zu allem bereit.“ (H. Mann)

Die Imperativformen des Verbs sein lauten: sei! seien wir! seid! seien Sie!

Die Modalverben bilden keinen Imperativ, das Verb lassen ausgenommen: laß! laßt! lassen Sie! lassen wir!

Bildung des Imperativs

1. Schwache und starke Verben

Infinitiv Singular Plural Höflichkeitsform
sag-en sag-(e)! sag-t! sag-en wir! sag-en Sie!
mach-en mach-(e)! mach-t mach-en wir! mach-en Sie!
fahr-en fahr-(e)! fahr-t! fahr-en wir! fahr-en Sie!
schreib-en schreib-(e)! schreib-t! schreib-en wir! schreib-en Sie!

2. Starke Verben mit dem Stammvokal -e-

Infinitiv Singular Plural Höflichkeitsform
nehm-en nimm! nehm-t! nehm-en wir! nehm-en Sie!
geb-en gib! geb-t! geb-en wir! geb-en Sie!
les-en lies! les-t! les-en wir! les-en Sie!

3. Schwache Verben mit dem Stamm auf d, t, bn, dn, gn, chn, fn, dm, tm

Infinitiv Singular Plural Höflichkeitsform
bad-en bad-e! bad-et! bad-en wir! bad-en Sie!
wart-en wart-e! wart-et! wart-en wir! wart-en Sie!
ebn-en ebn-e! ebn-et! ebn-en wir! ebn-en Sie!
ordn-en ordn-e! ordn-et! ordn-en wir! ordn-en Sie!
begegn-en begegn-e! begegn-et! begegn-en wir! begegn-en Sie!
zeichn-en zeichn-e! zeichn-et! zeichn-en wir! zeichn-en Sie!
öffn-en öffn-e! öffn-et! öffn-en wir! öffn-en Sie!
widm-en widm-e! widm-et! widm-en wir! widm-en Sie!
atm-en atm-e! atm-et! atm-en wir! atm-en Sie!

4. Besondere Fälle

Infinitiv Singular Plural Höflichkeitsform
sei-n sei! sei-d! sei-en wir! sei-en Sie!
werd-en werd-e! werd-et! werd-en wir! werd-en Sie!
lass-en laß! laß-t! lass-en wir! lass-en Sie!
komm-en komm! komm-t! komm-en wir! komm-en Sie!

§ 151. Der Konjunktiv. Der Konjunktiv bezeichnet das Unwirkliche im weitesten Sinne: eine Möglichkeit, eine Vermutung, einen Wunsch u. a. Im Konjunktiv hat das Verb dieselben Zeitformen wie im Indikativ. Außerdem gehören zum System des Konjunktivs noch zwei Formen: der Konditionalis I und der Konditionalis II. Die Zeitformen des Konjunktivs unterscheiden sich in Bildung, Bedeutung und Gebrauch wesentlich von den Zeitformen des Indikativs.

Bildung der Zeitformen des Konjunktivs

§ 152. Das Präsens. Das Präsens Konjunktiv aller Verben wird von dem Infinitivstamm mit dem Suffix -e und den Personalendungen gebildet. Der Stammvokal bleibt unverändert. Die 1. und 3. Person Singular weisen keine Personalendungen auf. In der 1. und 3. Person Plural verschmilzt das Suffix mit der Personalendung:

Singular

3. P. -e- er les-e fahr-e lern-e wend-e
1. P. -e- ich steh-e müss-e hab-e werd-e
2. P. -e-st du steh-e-st müss-e-st hab-e-st werd-e-st
3. P. -e- er steh-e müss-e hab-e werd-e

Plural

1. P. -e-n wir les-e-n fahr-e-n lern-e-n wend-e-n
2. P. -e-t ihr les-e-t fahr-e-t lern-e-t wend-e-t
3. P. -e-n sie les-e-n fahr-e-n lern-e-n wend-e-n
1. P. -e-n wir steh-e-n müss-e-n hab-e-n werd-e-n
2. P. -e-t ihr steh-e-t müss-e-t hab-e-t werd-e-t
3. P. -e-n sie steh-e-n müss-e-n hab-e-n werd-e-n

Das Verb sein hat im Singular Präsens Konjunktiv kein -e, vgl.:

Singular ich sei- Plural wir sei-e-n
du sei-st ihr sei-e-t
er sei- sie sei-e-n

§ 153. Das Präteritum. Die Formen des Präteritums Konjunktiv der schwachen Verben stimmen mit den Formen des Präteritums Indikativ überein, vgl.:

Konjunktiv Sg. ich lernte Pl. wir lernten Indikativ Sg. ich lernte Pl. wir lernten
du lerntest ihr lerntet du lerntest ihr lernter
er lernte sie lernten er lernte sie lernten

Die gemischten Verben haben im Präteritum Konjunktiv folgende Formen: er brennte, kennte, nennte, rennte, sendete, wendete, dächte.

Das Präteritum Konjunktiv der starken Verben wird vom Präteritumstamm des Indikativs mit dem Suffix -e- und den Personalendungen des Präteritums gebildet. Die Stammvokale a, o, u erhalten den Umlaut:

Singular

1. P. -e- ich schrieb-e käm-e
2. P. -e-st du schrieb-e-st käm-e-st
3. P. -e- er schrieb-e käm-e
1. P. -e- ich flög-e führ-e
2. P. -e-st du flög-e-st führ-e-st
3. P. -e- er flög-e führ-e

Plural

1. P. -e-n wir schrieb-e-n käm-e-n
2. P. -e-t ihr schrieb-e-t käm-e-t
3. P. -e-n sie schrieb-e-n käm-e-n
1. P. -e-n wir flög-e-n führ-e-n
2. P. -e-t ihr flög-e-t führ-e-t
3. P. -e-n sie flög-e-n flög-e-n

Manche starken Verben haben im Präteritum Konjunktiv Parallelformen:

Infinitiv Präteritum Indikativ Präteritum Konjunktiv
bergen barg bärge — bürge
helfen half hälfe — hülfe
sterben starb stärbe — stürbe
werben warb wärbe — würbe
werfen warf wärfe — würfe
gelten galt gälte — gölte
schelten schalt schälte — schölte
beginnen begann begänne — begönne
gewinnen gewann gewänne — gewönne
rinnen rann ränne — rönne
sinnen sann sänne — sonne
spinnen spann spänne — spönne
schwimmen schwamm schwämme — schwömme
befehlen befahl befähle — beföhle
stehlen stahl stähle — stöhle
heben hob höbe — hübe

Anmerkung. Die Formen mit ü bzw. ö werden vom Standpunkt der modernen Sprache als unregelmäßig aufgefaßt. Sie können nur geschichtlich erklärt werden. In der althochdeutschen und mittelhochdeutschen Periode nämlich hatte das Präteritum im Singular und im Plural verschiedene Ablautformen:

Infinitiv Präter. Sing. Präter. Plur. Partizip II
mhd werfen warf würfen geworfen
mhd riten reit riten geriten

Das Präteritum Konjunktiv wurde vom Präteritumstamm des. Plurals gebildet: würfe, rite.

In der frühneuhochdeutschen Periode fand eine Ausgleichung der Vokale im Präteritum statt; demgemäß haben alle starken Verben im modernen Deutsch nur eine Form des Präteritums Indikativ, von dessen Stamm das Präteritum Konjunktiv gebildet wird:

Infinitiv Präter. Sing. Präter. Plur. Partizip II
nhd werfen warf warfen geworfen
nhd riten ritt ritten geritten

Das Präteritum Konjunktiv: wärfe, ritte. Neben der neuen Form des Präteritums Konjunktiv hat sich bei manchen Verben die alte Form erhalten. Darum haben die obenerwähnten Verben Parallelformen: wärfe — würfe, hälfe — hülfe usw.

Die unregelmäßigen Verben sein, tun, gehen, stehen bilden das Präteritum Konjunktiv wie die starken Verben: er wäre, täte, ginge, stände (auch: stünde).

Die unregelmäßigen Verben haben, werden und bringen erhalten im Präteritum Konjunktiv den Umlaut: er hätte, würde, brächte.

Die Verben praeteritopraesentia (außer sollen und wollen) haben im Präteritum Konjunktiv den Umlaut: er dürfte, könnte, möchte, müßte, wüßte (aber: er sollte, wollte).

§ 154. Die zusammengesetzten Zeitformen des Konjunktivs werden nach demselben Prinzip gebildet wie die des Indikativs, nur steht das entsprechende Hilfsverb im Konjunktiv.

Das Perfekt Konjunktiv wird mit dem Hilfsverb haben bzw. sein im Präsens Konjunktiv und dem Partizip II des entsprechenden Verbs gebildet:

Singular 1. P. ich habe gesagt ich sei gegangen
2. P. du habest du seist
3. P. er habe er sei
Plural 1. P. wir haben wir seien
2. P. ihr habet ihr seiet
3. P. sie haben sie seien

Im Plusquamperfekt Konjunktiv steht das Hilfsverb haben bzw. sein im Präteritum Konjunktiv:

Singular 1. P. ich hätte gesagt ich wäre gegangen
2. P. du hättest du wärest
3. P. er hätte er wäre
Plural 1. P. wir hätten wir wären
2. P. ihr hättest ihr wäret
3. P. sie hätten sie wären

Das Futur I bzw. II Konjunktiv wird mit dem Hilfsverb werden im Präsens Konjunktiv und dem Infinitiv I bzw. II des entsprechenden Verbs gebildet;

  Futur I   Futur II  
Singular 1. P. ich werde sagen
gehen
ich werde gesagt haben
gegangen sein
2. P. du werdest du werdest
3. P. er werde er werde
Plural 1. P. wir werden wir werden
2. P. ihr werdet ihr werdet
3. P. sie werden sie werden

Der Konditionalis I bzw. II wird mit dem Hilfsverb werden im Präteritum Konjunktiv und dem Infinitiv I bzw. II des entsprechenden Verbs gebildet:

  Konditionalis I   Konditionalis II  
Singular 1. P. ich würde sagen
gehen
ich würde gesagt haben
gegangen sein
2. P. du würdest du würdest
3. P. er würde er würde
Plural 1. P. wir würden wir würden
2. P. ihr würdet ihr würdet
3. P. sie würden sie würden

§ 155. Die Zeitformen des Konjunktivs Passiv werden nach demselben Prinzip gebildet wie die des Indikativs Passiv, nur steht das Hilfsverb werden im Konjunktiv: Präsens — er werde gefragt, Präteritum — er würde gefragt, Perfekt — er sei gefragt worden, Plusquamperfekt — er wäre gefragt worden, Futur I — er werde gefragt werden, Futur II — er gefragt worden sein, Konditionalis I — er würde gefragt werden, Konditionalis II — er würde gefragt worden sein.

Bedeutung und Gebrauch des Konjunktivs

§ 156. Die Zeitformen des Konjunktivs werden ihrer Bildung nach in zwei Gruppen eingeteilt: den präsentischen Konjunktiv und den präteritalen Konjunktiv. Zum präsentischen Konjunktiv gehören: das Präsens, Perfekt und Futur, zum präteritalen: das Präteritum, das Plusquamperfekt und der Konditionalis. Diese Einteilung hilft auch die Besonderheiten in Bedeutung und Gebrauch der Zeitformen zu unterscheiden. Die Zeitformen des Konjunktivs unterscheiden sich ihrer zeitlichen Bedeutung nach von den entsprechenden Zeitformen des Indikativs. So dient das Präteritum Konjunktiv stets zur Bezeichnung eines gegenwärtigen bzw. zukünftigen Vorgangs; ein vergangenes Geschehen wird durch das Perfekt und das Plusquamperfekt Konjunktiv bezeichnet. Seiner zeitlichen Bedeutung nach entspricht der Konditionalis I dem Präteritum Konjunktiv und der Konditionalis II dem Plusquamperfekt Konjunktiv.

Der Konjunktiv kann absolut und relativ gebraucht werden. Im selbständigen Satz sowie im Hauptsatz wird er nur absolut gebraucht, im Nebensatz absolut und relativ.

Seiner modalen Bedeutung nach unterscheidet sich der präsentische Konjunktiv recht wesentlich von dem präteritalen.

§ 157. Die präsentischen Zeitformen. Von den Zeitformen des präsentischen Konjunktivs wird nur das Präsens im selbständigen Satz gebraucht. Das Perfekt und das Futur Konjunktiv kommen nur im Nebensatz vor. Das Präsens Konjunktiv bezeichnet einen erfüllbaren Wunsch, einen Befehl, eine Anweisung, eine Einräumung (der optative, imperativische oder heischende Konjunktiv). Es wird gebraucht:

1. zum Ausdruck eines realen, erfüllbaren Wunsches in Losungen sowie in gehobener, pathetischer Rede;

Es lebe der Frieden in der ganzen Welt!

„Lang lebe der König! Es freue sich, | Wer da atmet im rosigten Licht!“ (F. Schiller)

Selim verneigte sich und sprach: „Dein Wille geschehe, o Herr!“ (W. Hauff)

2. zum Ausdruck eines Befehls, einer Aufforderung, die an eine dritte Person (bzw. dritte Personen) gerichtet wird (gleichfalls in der gehobenen, pathetischen Rede);

„Man bind’ ihn an die Linde dort!“ (F. Schiller)

Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! (J. W. Goethe)

Rette sich, wer kann... (J. R. Becher)

Ihnen allen hatte Henri Barbusse das einfache und große Wort zugerufen: „Man befreie die Menschen, die verfolgt werden, weil sie die Menschen befreien wollen!“ (W. Bredel)

3. zum Ausdruck einer Anweisung, einer Aufforderung, einer Annahme (vorwiegend in der wissenschaftlichen, namentlich technischen Literatur; in Rezepten usw.). Als Subjekt des Satzes tritt in diesem Fall meist das unbestimmtpersönliche Pronomen man auf;

Man mache die Probe mit den angeführten Beispielen. (H. Paul).

Man nehme stets soviel Wasser, daß der Stoff darin schwimmt und von Wasser gut bedeckt ist. (Aus einer Anleitung zum Färben von Stoffen)

Eine Abart des Imperativischen Konjunktivs, gleichfalls in der wissenschaftlichen Literatur sowie in Vorträgen, Reden und dergleichen gebräuchlich, stellt das Verb sein im Präsens Konjunktiv mit dem Partizip II eines transitiven Verbs dar: es sei erwähnt, betont, bemerkt, hervorgehoben usw.

Zum Schluß sei betont, daß eine Ausspracheregelung niemals das Werk eines einzelnen sein kann... (Sprachpflege)

In diesem Zusammenhang sei noch ein Phänomen erwähnt. (F. C. Weiskopf)

Zum Ausdruck einer Annahme in arithmetischen und mathematischen Aufgaben, Theoremen usw. dient gleichfalls das Präsens Konjunktiv des Verbs sein.

Jetzt sei AD eine „Geneigte Ebene“, die man gewöhnlich... „Schiefe Ebene“ nennt. (A. Oettingen)

4. Der Gebrauch des Präsens Konjunktiv zum Ausdruck der Einräumung beschränkt sich auf einige mehr oder weniger erstarrte Wendungen.

„Du mußt das Taschentuch finden, koste es, was es wolle.“ (J. R. Becher)

„Aber wir müssen uns behaupten, komme, was da wolle.“ (J. R. Becher)

(Über den Gebrauch des Perfekts und des Futurs Konjunktiv s. §§ 360 u. 382.)

§ 158. Die präteritalen Zeitformen. Alle Zeitformen des präteritalen Konjunktivs werden im selbständigen Satz gebraucht; sie drücken einen irrealen Wunsch, eine bedingte Möglichkeit, etwas Nichtwirkliches aus. In dieser ihrer Hauptbedeutung entspricht der präteritale Konjunktiv (und nur der präteritale!) dem russischen сослагательное наклонение. Vgl.:

Hätte er wenigstens eine Decke, um sich einzuwickeln. (W. Bredel) Было бы у него по крайней мере одеяло, чтобы укутаться.

§ 159. Das Präteritum und das Plusquamperfekt Konjunktiv dienen zum Ausdruck eines irrealen Wunsches (der optative Konjunktiv). Solche Sätze nennt man irreale Wunschsätze. Ihrer Form nach gleichen sie Nebensätzen mit der Konjunktion wenn (bzw. wenn doch (daß), daß doch) oder einem konjunktionslosen Nebensatz. Der Unterschied im Gebrauch des Präteritums und des Plusquamperfekts ist ein zeitlicher. Das Präteritum bezeichnet einen irrealen Wunsch, der sich auf die Gegenwart bzw. die Zukunft bezieht. Vom Standpunkt des Redenden ist solch ein Wunsch unerfüllbar, objektiv ist aber dessen Erfüllung oft nicht völlig ausgeschlossen.

Walter dachte: Wenn das Mutter in Hamburg wüßte! (W. Bredel)

Jaja! Ein Mensch ist er. Ein großer, ein wirklicher Mensch! Oh, wären doch alle Menschen so wie er! (W. Bredel)

O, daß sie ewig grünen bliebe, | Die schöne Zeit der jungen Liebe! (F. Schiller)

Das Plusquamperfekt bezeichnet einen irrealen Wunsch, der sich auf die Vergangenheit bezieht und deshalb vollkommen irreal ist.

„Wenn das Ihr seliger Herr Großvater noch erlebt hätte! (J. R. Becher)

„Gymnasiast“, bekam ich in der darauffolgenden Zeit so häufig zu hören, daß ich mir wünschte: ach, war’ ich nur in der Volksschule geblieben! (J. R. Becher)

Beachten Sie die Stellung des finiten Verbs in den irrealen Wunschsätzen.

Anmerkung. In der Umgangssprache wird in den irrealen Wunschsätzen zuweilen auch der Konditionalis I gebraucht, der hier der Bedeutung und Funktionen nach mit dem Präteritum übereinstimmt.

Franz denkt: „Wenn ich nur immer so weiter radeln könnte, wenn diese Straße nur nie nach Höchst führen würde.“ (A. Seghers)

§ 160. Alle vier Zeitformen des präteritalen Konjunktivs (Präteritum, Plusquamperfekt, Konditionalis I und II) dienen zum Ausdruck einer irrealen bedingten Möglichkeit (der Potentiale Konjunktiv). Das Präteritum und der Konditionalis I bezeichnen einen Vorgang, dessen Verwirklichung vom Redenden als mehr oder weniger unwahrscheinlich empfunden wird.

Ruth?.. Er wußte doch gern, wie sie lebte, wie es ihr ging und — wie sie aussah. (W. Bredel)

So recht vorbereitet war nichts, er würde ganz gerne noch so sechs oder acht Wochen bleiben... (H. Fallada)

In dem allgemeinen Durcheinander und der Aufregung würde sie kaum vermißt werden. (W. Bredel)

Anmerkung. Besonders häufig wird der Konditionalis I von schwachen Verben gebraucht, deren Präteritum mit dem des Indikativs übereinstimmt.

Das Plusquamperfekt Konjunktiv bzw. der Konditionalis II (selten) bezeichnen einen Vorgang, dessen Verwirklichung vollkommen unwahrscheinlich ist; die Möglichkeit der Verwirklichung liegt oft in der Vergangenheit.

Diederich beeilte sich, ihr einen Stuhl zu holen; aber in Wirklichkeit wäre er lieber mit Bück allein gewesen... (H. Mann)

Marcel hätte sich gerne an diesen Gesprächen beteiligt, doch er getraute sich nicht. (W. Bredel)

Das Plusquamperfekt Konjunktiv wird meist gebraucht, wenn im Satz die Adverbien fast bzw. beinahe vorhanden sind.

Fast wäre er an dem Haus, in dem der Weber Emile Burzot wohnte, vorbeigelaufen. (W. Bredel)

Rumpf lachte. „Beinahe hätte ich den Grund Ihres Besuches vergessen“, begann er von neuem. (B. Kellermann)

Anmerkung. Der entsprechende russische Satz enthält die Negation не; vgl.:

Румпф засмеялся. „Я чуть не позабыл о цели вашего прихода“, — снова начал он.

§ 161. In einigen Fällen haben die Zeitformen des präteritalen Konjunktivs die ihnen sonst eigene Bedeutung der Irrealität nicht. Man gebraucht sie:

1. zum Ausdruck einer Behauptung, die vom Redenden aus Höflichkeitsgründen als eine Annahme, ein Vorschlag hingestellt wird (der sogenannte diplomatische Konjunktiv);

„Es wäre an der Zeit, daß der Gemeinderat unsere Geschicke in die Hand nimmt.“ (W. Bredel)

„Die Ereignisse, die ich Ihnen berichtet habe, dürften für sich sprechen.“ (K. Herrmann)

2. in Feststellungen (häufig mit emotionaler Färbung), in denen der Abschluß einer Handlung als Resultat begrüßt wird (der sogenannte konstatierende Konjunktiv);

„Da wären wir alle beisammen“, bemerkte der Advokat... (H. Mann)

Als er einmal das Buch ganz auf die Knie herabsinken ließ und hinauf in den blauen, sonnigen Himmel blinzelte, sagte er zu sich: Das wären nun dreißig Jahre. (Th. Mann)

Manchmal haben solche Äußerungen einen ironischen Beiklang.

So hätte ich mich dennoch an Goethe festgeschwatzt. (H. Heine)

„Da haben wir uns ja schön hereinlegen lassen“, erzählte er der Hündin Caprice, „da wären wir ja schön hereingefallen.“ (L. Feuchtwanger)

Da hätten wir die Bescherung!

3. im Fragesatz, dessen Inhalt vom Redenden als zweifelhaft und unwahrscheinlich empfunden wird. Häufig gehen solche zweifelnden Fragen in Ausrufe der Verwunderung und des Unwillens über.

Claudia: Räuber wären es gewesen, die uns anfielen? — Mörder waren es; erkaufte Mörder! (G. E. Lessing)

Hinrich Willmers sprang auf. „Was sagst du da? Steeven hätte Carl denunziert?“ (W. Bredel)

(Über den Gebrauch des Konjunktivs in den Nebensätzen siehe die entsprechenden Paragraphen der Syntax.)

Die Modalverben

§ 162. Es gibt in der deutschen Sprache außer der grammatischen Kategorie des Modus verschiedene andere Mittel, die Modalität des Satzes auszudrücken. Das wichtigste dieser Mittel sind die sogenannten Modalverben, die eine besondere Gruppe von Verben darstellen.

Diese Gruppe besteht aus folgenden 7 Verben: dürfen, können, lassen, mögen, müssen, sollen, wollen.

Im Gegensatz zur grammatischen Kategorie des Modus bezeichnen die Modalverben nicht nur das Verhalten des Redenden zur Realität der Aussage (s. § 225), häufiger noch bezeichnen sie das Verhalten des Subjekts des Satzes zu dem Vorgang, der durch den Infinitiv ausgedrückt wird. Im ersten Fall wird das Modalverb vorwiegend mit dem Infinitiv II gebraucht, im zweiten Fall nur mit dem Infinitiv I. Die Bedeutung der Modalverben ist viel konkreter und an Schattierungen reicher als die Bedeutung des Modus mit seinem verallgemeinernden, abstrakt-grammatischen Wesen, um so mehr als die Modalverben ihrerseits sowohl im Indikativ als auch im Konjunktiv gebraucht werden können.

Die Modalverben können eine Möglichkeit, eine Notwendigkeit, eine Annahme, einen Befehl, einen Wunsch ausdrücken. Alle Modalverben sind vieldeutig; jedes hat eine Grundbedeutung und einige Nebenbedeutungen.

§ 163. Das Verb können bezeichnet:

1. eine Möglichkeit (bzw. Unmöglichkeit), die durch verschiedene Umstände bedingt ist (physische Kraft, Fähigkeit, Wissen, Erlaubnis);

„Man muß ausrechnen, wieviel vier Mann in der Woche schaffen können.“ (E. Claudius)

„Nein!“ rief er, „und abermals nein! Meine Überzeugung kann ich nicht verraten!“ (H. Mann)

„Man kann indessen nie wissen, ob nicht Komplikationen eintreten“, entgegnete die Schwester... (B. Kellermann)

„Sie können sich setzen“, sagte der Vorsitzende und blickte in den Saal. (L. Frank)

2. eine Annahme.

Die Geschichte dieses Enno Kluge kann wahr sein, sie ist sogar höchstwahrscheinlich wahr... (H. Fallada)

Dann dachte er wieder: „Es kann ja doch ein Spitzel gewesen sein. Der Name des Bootes? Den kann man schon längst herausgebracht haben.“ (A. Seghers)

§ 164. Das Verb dürfen bezeichnet:

1. eine Möglichkeit, die durch eine Erlaubnis, ein Recht bedingt ist;

„Ich bin auch Sozialdemokrat“, rief Johann Hardekopf erregt. „Bin aus Bochum, aus dem Ruhrgebiet. Ob ich wohl mitgehn darf?“ Er durfte sich einreihen. (W. Bredel)

Bestellungen, auf die Diederich rechnen durfte, blieben aus. (H. Mann)

2. ein Verbot (immer mit einer Negation);

Im Wirbel sah sie... das Schild über der Kapelle: mit brennender Zigarette darf nicht getanzt werden. (E. Claudius)

Keine sozialdemokratische Zeitung durfte erscheinen... (W. Bredel)

3. eine Behauptung, die aus Höflichkeitsgründen als eine bescheidene Annahme hingestellt wird. In diesem Fall steht das Verb dürfen im Präteritum Konjunktiv. (Vgl. § 161.)

„Die Nachrichten“, sagte er, „dürften übertrieben sein, wie so oft.“ (L. Feuchtwanger)

§ 165. Das Verb mögen bezeichnet:

1. einen Wunsch; dabei kann es sowohl im Indikativ als auch im Konjunktiv stehen;

Diesen Drang, wegzugehen..., ich hab’ ihn nicht. Ich mag hier immer bleiben von mir aus. (A. Seghers)

Er hätte laut aufjubeln mögen. (W. Bredel)

Im Präsens Konjunktiv bezeichnet das Verb mögen einen realen Wunsch (meist in gehobener Sprache).

Der Tapezierer brütete vor sich hin. Möge das Unglück, möge der Mensch an seiner Tür vorbeigehen. Möge ihm rasch seine Flucht gelingen. Möge er eher — vorher gefangen werden? Nein, das wünschte er selbst seinem Feind nicht. (A. Seghers)

Im Präteritum Konjunktiv bezeichnet das Verb mögen einen realen Wunsch (in bescheidener Form) und kommt sehr oft in der Umgangssprache vor.

„Nein, ich möchte mit Andrytzki arbeiten, und ich glaub, er wird mir helfen.“ (E. Claudius)

„Ich möchte Arzt werden“, sagte er eines Tages zum Vater. (W. Joho)

2. eine Möglichkeit;

„Das mag wohl wahr sein“, sagte Wilhelm... (J. W. Goethe)

Eine Viertelstunde nur mag seit der Ankunft des Zuges vergangen sein, als die Sirene unseres Dampfers ertönt... (E. Welk)

3. eine Einräumung (in Konzessivsätzen sowie in einem zusammengesetzten Satz, dessen einer Bestandteil einräumende Bedeutung hat).

„Da muß ich Ihnen leider sagen, so unpopulär das vielleicht in diesem Kreise auch sein mag: mit diesen Menschen müssen wir rechnen...“ (J. R. Becher)

Und Diederich mochte sich empören oder um Gnade flehen, er mußte auf ein Blatt Papier schreiben, daß er für das Gewerkschaftshaus nicht nur selbst stimmen, sondern auch die ihm nahestehenden Stadtverordneten bearbeiten werde. (H. Mann)

Das Verb mögen kann auch selbständig als transitives Verb in der Bedeutung „gern haben“, „lieben“ gebraucht werden.

„Siehst du, Anna“, sagte er dann. „So mag ich dich. Wir haben keine Angst.“ (H. Fallada)

§ 166. Das Verb müssen bezeichnet:

1. eine zwingende Notwendigkeit, bei der eine Nichterfüllung nicht geduldet wird;

Seine Beine werden ganz kraftlos, er muß sich setzen. (B. Kellermann)

Zillich? Wird ihn Fahrenberg wieder dahin holen, wohin man ihn selbst schickt? Oder muß er allein in Westhofen bleiben? (A. Seghers)

2. eine Annahme, mit ziemlicher Sicherheit geäußert.

„Ich habe einen Schlüssel, und mein Mann muß auch in der Wohnung sein, es steckt ein Schlüssel von innen.“ (A. Scharrer)

Ja, Johann Buddenbrook mußte diese erste Gattin... in rührender Weise geliebt haben... (Th. Mann)

§ 167. Das Verb sollen bezeichnet:

1. Eine Notwendigkeit, bei der eine Nichterfüllung nicht ausgeschlossen ist;

„Er ist Schuster, sagen sie, und Schuster soll er bleiben.“ (B. Brecht)

Abends sollte Dallmann die vier Gefangenen... den Versaillern übergeben. (W. Bredel)

2. eine Aufforderung; einen Befehl (oft an dritte Personen);

Gegen die Freiheit sollte niemand Krieg führen. (H. Mann)

„Sie sollen mir folgen, und zwar möglichst unauffällig!“ (W. Bredel)

Er verlangte, sie solle sich auf den Diwan setzen, und sie setzte sich. (H. Mann)

Sollen dient auch zum Ausdruck einer Frage, auf die ein Rat, eine Aufforderung bzw. ein Befehl erwartet wird.

„Die Mutter ist schuld“, dachte der kleine Groh. „Sie hat mir zur Vorsicht geraten. Gerade das darf ich ihnen nicht sagen... Was soll ich nur tun?“ (A. Seghers)

Er fragte sich, ob er ihr alles sagen sollte... (B. Brecht)

3. einen indirekten Wunsch, zuweilen eine Drohung;

Er soll es nur nicht zu weit treiben. (H. Mann)

„Der alte Bück soll sich hüten!“ (H. Mann)

4. eine zweifelnde Annahme (in Frage- bzw. Konditionalsätzen) ;

Heinrich, das wußte sie, war ein braver Junge, guter Eltern Sohn, hatte ihr keinen Dunst vorgemacht. Sollte er etwas angestellt haben in der Art wie Georg? (A. Seghers)

Soll das ein Bett vorstellen?“ sagte Georg. (A. Seghers)

„Den Römern würde gewiß nicht Zeit genug übriggeblieben sein, die Welt zu erobern, wenn sie das Latein erst hätten lernen sollen.“ (H. Heine)

„Und wenn er kommen sollte“, setzte er hinzu, „nun, wir werden sehen.“ (E. Claudius)

Zuweilen gehen solche Fragen in Ausrufe des Staunens bzw. des Unwillens über.

Frau Hardekopf — immer noch stumm — mustert die Fremde von Kopf bis Fuß. Besonders die Füße. Schwere Schnürstiefel mit fingerdicken Sohlen sind das... „Füße?“, denkt sie, „Füße sollen das sein?“ (W. Bredel)

5. eine Behauptung, die sich auf eine fremde, vom Redenden nicht überprüfte Aussage stützt;

„Der Oberst soll nämlich behaupten, er habe gar kein Telegramm bekommen.“ (H. Mann)

Paul Papke... sollte, wie ihr Schwiegersohn Paul Gehl erzählte, sogar Direktor geworden sein. (W. Bredel)

6. die Zukunft.

„Oh!“ — Agnes sah ihn an, „was aus Ihnen alles geworden ist! Und jetzt sind Sie wohl schon Doktor?“ — „Das soll jetzt kommen.“ (H. Mann)

Zuweilen bezeichnet sollen die Zukunft in bezug auf die Vergangenheit.

Ein Jahr später sollen sich beide aus freiem Entschluß zu dem todgeweihten Robespierre bekennen; auch im Tod wollten sie bei ihm bleiben. (W. Bredel)

§ 168. Das Verb wollen bezeichnet:

1. einen Wunsch, eine Absicht;

„Wir wollen morgen in aller Frühe im Wagen in die Campagna fahren.“ (B. Kellermann)

„Ich wollte das Haus schon jemandem schenken, aber niemand wollte es haben, ich hoffe, daß es bald einfällt.“ (B. Kellermann)

2. die Zukunft;

„Wenn mein Büro heut nachmittag aus ist, will ich zu meinem Vater fahren.“ (A. Seghers)

3. eine Aufforderung, wobei der Sprechende mit inbegriffen ist;

Es folgten Ausrufe: „Ach, wollen wir uns lieber gar nicht mehr daran erinnern!“ (J. R. Becher)

„Also schön, ruhen Sie sich einen Augenblick aus. Sie werden schon Vernunft annehmen. Wollen wir uns hier hinsetzen?“ Und wieder faßte er nach Kluges Arm. (H. Fallada)

In der 2. bzw. 3. Person gebraucht, bezeichnet das Verb wollen eine betont höfliche Aufforderung.

Wollen Sie bitte der Reihe nach hereinkommen, meine Herrschaften.“ (F. Erpenbeck)

4. einen Befehl in schroffer Form;

Willst du endlich einmal gehorchen!

5. Eine Behauptung, die vom Subjekt des Satzes ausgeht, jedoch vom Sprechenden nicht überprüft worden ist und daher angezweifelt wird.

„Ein Briefchen von meinem Herrn an das gnädige Fräulein, das seine Schwester sein will“. (G. E. Lessing)

Dieser wollte am vorigen Morgen in der Sprechstunde des Arztes Löwenstein einen verdächtigen Mann bemerkt haben... (A. Seghers)

§ 169. Die Modalverben müssen, wollen, können, sollen können in ihrer Hauptbedeutung zuweilen auch ohne Infinitiv gebraucht werden. Meist enthält; dann der Satz eine Adverbialbestimmung des Ortes, ein direktes Objekt usw.

„Es darf niemand ins Haus ohne seine ausdrückliche Erlaubnis!“ (L. Feuchtwanger)

Wohin wollte er eigentlich? Er wußte nur, daß er noch nicht nach Haus konnte. (W. Bredel)

Er hatte schon am folgenden Tag aus der Stadt gemußt. (A. Seghers)

„Nun, wo sie das Kind haben, wollten sie ihr eigenes Heim.“ (W. Bredel)

Er mußte sofort zu diesem Mann aus Röders Abteilung... (A. Seghers)

„Er dachte zehnmal in einer Stunde: Ich hätte es doch gesollt“... (A. Seghers)

§ 170. Das Verb lassen nimmt eine Sonderstellung unter den Modalverben ein. Seine Eigentümlichkeit besteht darin, daß es nicht nur modale Bedeutungen besitzt, sondern auch

als Vollverb gebraucht wird. Als Modalverb bezeichnet lassen:

1. eine Erlaubnis, ein Zulassen;

Ohne jeden Widerstand ließ sich der kleine alte Mann von Kunze zum Sessel zurückführen. (B. Kellermann)

„Ich laß mich nicht fangen“, sagte er sich, während er lief. (B. Balazs)

2. einen Befehl, eine Aufforderung, eine Bitte;

Die Großmutter ließ sich von Christine noch einen Schal bringen. (J. R. Becher)

Leutnant Maurice rief die Wache und ließ seinen ehemaligen Vorgesetzten abführen. (W. Bredel)

Lassen Sie uns die Hoffnung nicht verlieren, Gleichen!“ versetzte Wolf gang. (B. Kellermann)

„Jetzt laß nicht wieder so ’ne Pause in der Freundschaft eintreten.“ — „Nein, Liesel.“ (A. Seghers)

3. eine Möglichkeit, eine Erlaubnis (in reflexiven Wendungen mit passiver Bedeutung).

„Das läßt sich hören“, sagte Lotte. (J. W. Goethe)

...es läßt sich hier auch, ehe man seinen Arbeitsplatz aufsucht, noch gut ein Augenblick verplaudern. (E. Claudius)

Als Vollverb bedeutet lassen etwas bzw. jemanden verlassen, zurücklassen.

Dann ließen die Eltern Kätchen mit Diederich allein... (H. Mann)

„Wo hast du den Vater gelassen? Wo bleibt nur der Vater?“ fragte die Mutter durch die Tür. (J. R. Becher)

Als die Mutter klopfte, rief ich: „Laß mich!“ (J. R. Becher)

Das Vollverb lassen tritt häufig als Bestandteil von phraseologischen Wendungen auf: am Leben lassen, außer acht lassen, im Stich lassen, aus dem Spiel lassen, kein Auge von etwas oder jemandem lassen, es gut sein lassen, sich etwas (nicht) gefallen lassen, die Finger von etwas lassen u. a. m.

Lassen Sie mich in Ruh’. Ihren Brief habe ich nicht mehr.“ (H. Mann)

„Es ist einfach deine Pflicht, mir zu helfen... Du darfst mich nicht im Stich lassend (J. R. Becher)

(Über die übrigen Mittel, die zum Ausdruck der Modalität dienen, s. § 224 ff.)

Die terminativen und die kursiven Verben

§ 171. Das deutsche Verb hat im Gegensatz zum russischen keine grammatische Kategorie der Aktionsart. Man unterscheidet im Deutschen die sogenannten terminativen und die kursiven Verben (Verben mit begrenzter und Verben mit nichtbegrenzter Bedeutung), die mit den russischen perfektiven bzw. imperfektiven Verben nicht übereinstimmen.

Die terminativen Verben bezeichnen einen Vorgang, der zeitlich einen natürlichen Abschluß findet (transitive Verben: bringen, finden, bemerken, übergeben u. a.; intransitive Verben: kommen, wegfahren, fortgehen, einschlafen, verschwinden, erblühen u. a.).

Vergleichende Tabelle

Deutsch Russisch
terminative Verben perfektive Verben imperfektive Verben
bringen принести приносить
finden найти находить
übergeben передать передавать
kommen придти приходить
wegfahren уехать уезжать
erblühen расцвести расцветать

Die kursiven Verben bezeichnen einen Vorgang, der in seiner Dauer durch nichts eingeschränkt ist (transitive Verben: tragen, suchen, lieben, fühlen u. a.; intransitive Verben: gehen, laufen, fahren, schlafen, blühen u. a.).

Zwischen diesen beiden Gruppen von Verben läßt sich keine scharfe Grenze ziehen. Es gibt sehr viele Verben, die sowohl terminative als auch kursive Bedeutung haben können. Meist hängt das von dem Inhalt der Aussage ab. Vgl.:

Jacques lebte im allgemeinen sehr mäßig, er rauchte wenig und trank fast nichts. (B. Kellermann)

Er... rauchte... eine Zigarette nach der anderen. (B. Kellermann)

Er trank ein Glas Wein im „Trajan“... (B. Kellermann)

Zuweilen können auch kursive Verben als terminative auftreten.

Sie fuhren im Wagen des Professors durch den sommerlich-warmen Morgen... (M. Zimmering)

Der Generalstreik wurde durchgegeben. Wallisch rief seine Frau, und sie fuhren. (A. Seghers)

Er ging, ohne zu bezahlen, aber der Kellner lief hinter ihm her... (B. Kellermann)

Ein terminatives Verb entspricht in der Regel im Russischen einem terminativen Verb mit perfektiver bzw. imperfektiven Bedeutung; vgl.: kommen — прийти, приходить; finden — найти, находить; bringen — принести, приносить usw. Die kursiven Verben des Deutschen entsprechen meist den russischen kursiv-imperfektiven Verben; vgl.: gehen — идти, ходить; jedoch können sie zuweilen auch einem terminativ-perfektiven Verb entsprechen; vgl.: gehen — уйти.

Manche Vorsilben machen im Deutschen ein kursives Verb zu einem terminativen (aber nicht perfektiven!); meist stellt sich ein gewisser Bedeutungswandel ein; vgl.: blühen — erblühen; schlafen — einschlafen; gehen — entgehen; schießen — erschießen usw.

Die Nominalformen des Verbs

§ 172. Zu den Nominalformen des Verbs gehören der Infinitiv und die beiden Partizipien: das Partizip I und das Partizip II. Sie heißen Nominaiformen, weil sie außer verbalen Eigenschaften auch nominale aufweisen. Sie verändern sich nicht nach Person und Zahl und werden daher auch (als Bestandteil einer Verbalform) verbum infinitum genannt.

Der Infinitiv

§ 173. Der Infinitiv (die Nennform des Verbs) ist eine der drei Grundformen des Verbs. Er nennt einen Vorgang ohne Angabe der handelnden Person und dient zur Bildung einiger Zeitformen (Futur, Konditionalis).

Man unterscheidet im Deutschen zwei Formen des Infinitivs: den Infinitiv I und den Infinitiv II . Der Infinitiv I wird vom Präsensstamm des Verbs und dem Suffix -(e)n gebildet: trag-en, lehr-en, sammel-n, feier-n. Das Suffix -n bekommen Verben mit den Suffixen -er, -el sowie Verben, die von Substantiven (seltener von anderen Wortarten) auf -er, -el abgeleitet sind: lächel-n, zöger-n, segel-n, feier-n, erwider-n.

Der Infinitiv II wird mit dem Partizip II des entsprechenden Verbs und dem Infinitiv I des Hilfsverbs haben bzw. sein gebildet: gesagt haben, gefahren sein. Die transitiven Verben weisen außerdem noch zwei passive Formen auf: den Infinitiv I Passiv und den Infinitiv II Passiv.

Der Infinitiv I Passiv wird mit dem Partizip II des Vollverbs und dem Infinitiv I des Hilfsverbs werden gebildet: gelesen werden, getragen werden. Der Infinitiv II Passiv wird mit dem Partizip II des Vollverbs und dem Infinitiv II des Hilfsverbs werden gebildet: gelesen worden sein, getragen worden sein.

Tabelle

intransitive Verben
Infinitiv I Infinitiv II
kommen gekommen sein
schlafen geschlafen haben
transitive Verben
Infinitiv I Infinitiv II
Aktiv sammeln gesammelt haben
lesen gelesen haben
Passiv gesammelt werden gesammelt worden sein
gelesen werden gelesen worden sein

§ 174. Die verbalen Eigenschaftendes Infinitivs. Als verbale Form hat der Infinitiv eine relative zeitliche Bedeutung: der Infinitiv I bezeichnet die Gleichzeitigkeit (in bezug auf den durch das Prädikat ausgedrückten Vorgang).

Die Majorin sprach weiter, ohne auf Marianne zu achten. (B. Uhse)

Der Infinitiv II bezeichnet die Vorzeitigkeit.

Er ist fast traurig, den neuen Bekannten so schnell wieder verloren zu haben. (W. Bredel)

Beim ersten Zusammentreffen mit den republikanischen Truppen des Konvents lief er mit seiner Sektion über, ohne auch nur einen Schuß abgefeuert zu haben. (W. Bredel)

Im Zusammenhang mit der Bedeutung der Vorzeitigkeit steht die Abgeschlossenheit der Handlung, die durch den Infinitiv II ausgedrückt wird.

„Ich bin wirklich glücklich, Sie zu Hause getroffen zu haben“, sagte Charlotte. (B. Kellermann)

Die obenerwähnten Eigenschaften und Funktionen des Infinitivs kennzeichnen ihn als eine verbale Form. Die verbalen Kategorien sind es auch, die für das System der Infinitive entscheidende Bedeutung haben. Die Zahl und die gegenseitigen Beziehungen der Infinitivformen zueinander werden durch die Wechselbeziehungen zweier Verbalkategorien bedingt: der relativen Zeit und des Genus.

§ 175. Nominale Eigenschaften weist von den vier Formen des Infinitivs vor allem der Infinitiv I Aktiv auf. Seiner Bedeutung nach steht der Infinitiv I den Substantiven nahe, die einen Vorgang bezeichnen, denn er nennt einen Prozeß bzw. Zustand ohne Hinweis auf Person und Zeit, vgl.: übersetzen (das Übersetzen) — die Übersetzung.

Der Infinitiv (sowie die Infinitivgruppe, d. h. ein Infinitiv mit näheren Bestimmungen) erfüllt im Satz die Funktionen, die vor allen Dingen dem Substantiv zukommen: diejenigen des Subjekts und des Objekts des Satzes.

Handeln ist leicht, denken schwer; nach dem Gedachten handeln unbequem. (J. W. Goethe)

Papke nahm es auf sich, alles Notwendige zu organisieren. (W. Bredel)

Ich war froh, mein Gewissen... beruhigen zu können... (J. R. Becher)

Auch die übrigen syntaktischen Funktionen des Infinitivs (die eines Attributs und einer Adverbialbestimmung) unterscheiden ihn von den persönlichen Formen des Verbs.

Der Wunsch, aufzustehen, wegzugehen, allein zu sein, kribbelte in ihm. (F. C. Weiskopf)

Aber eines Tages ging sie ins Dorf Sirup holen... (B. Brecht)

§ 176. Im Deutschen tritt das Gemeinsame zwischen Infinitiv und Substantiv auch in der großen Leichtigkeit zutage, mit der sich jeder Infinitiv substantivieren läßt: geben — das Geben, lesen — das Lesen, verstehen — das Verstehen usw. Der substantivierte Infinitiv ist sächlichen Geschlechts und wird meist mit dem Artikel gebraucht. Er kann dekliniert werden und läßt sich durch Attribute näher bestimmen.

Das Klopfen ist doch eine herrliche Endeckung... (W. Bredel)

Ich verstand zwar nicht die Worte, die er sprach, aber da er während des Sprechens beständig trommelte, so wußte ich doch, was er sagen wollte. (H. Heine)

Als aber zu seinem Erstaunen der Sanitätsrat eintrat, wich er unwillkürlich einen Schritt zurück. (B. Kellermann)

Aus dem Personenwagen hinter der Lokomotive drang grölendes Singen und Gelächter. (B. Kellermann)

Manche substantivierten Infinitive haben sich gänzlich vom entsprechenden Verb losgelöst und werden nicht mehr als Substantivierung empfunden: das Leben, Essen, Leiden, Vergnügen, Vermögen, Betragen, Verbrechen u. a. m. Einige von diesen Substantiven können auch im Plural gebraucht werden: die Vermögen, die Leiden, die Verbrechen.

Der Gebrauch des Infinitivs. Die Infinitivgruppen

§ 177. Der Infinitiv wird mit bzw. ohne die Partikel zu gebraucht und tritt im Satz als unabhängiger bzw. abhängiger Infinitiv auf. Zum Infinitiv treten häufig nähere Bestimmungen, das sind Wörter bzw. Wortgruppen, die vom Infinitiv abhängig sind. Der Infinitiv bildet mit seinen näheren Bestimmungen eine Infinitivgruppe und steht in dieser meist mit zu. Es gibt auch Infinitivgruppen, in denen der Infinitiv stets abhängig ist und mit zu gebraucht wird; sie werden durch die Konjunktionen um, (an)statt bzw. ohne eingeleitet.

Steve ging zurück zu Johanna, um Abschied zu nehmen. (L. Frank)

Statt Nachricht zu schicken, kam sein Freund Wu selbst am Nachmittag in die angegebene Herberge. (A. Seghers)

Sie bewegte in einem fort die Lippen, ohne ein Wort zu sagen. (A. Seghers)

Hat das Verb im Infinitiv einen trennbaren Bestandteil, so steht die Partikel zu zwischen diesem und dem zweiten Bestandteil.

„Was hat er sich da hereinzumischenl“ (J. R. Becher)

Sie... wird sich freuen, daß mir einmal etwas schiefgegangen ist, und vielleicht hoffen, mich dadurch kleinzukriegen. (E. Claudius)

§ 178. Der unabhängige Infinitiv. Der unabhängige Infinitiv erfüllt im Satz die Funktion des Subjekts. Steht er an der ersten Stelle, so wird er meist ohne zu gebraucht.

Leugnen ist völlig unsinnig.“ (W. Bredel)

„Wir werden alt... Ach, Johann, alt werden ist etwas Schreckliches. Etwas ganz Schreckliches.“ (W. Bredel)

Die Tür abzuschließen war verboten. (J. R. Becher)

Häufig beginnt ein Satz, in dem ein Infinitiv als Subjekt auftritt, mit einem Nebenglied oder dem Korrelat es (vgl. § 103); der Infinitiv selbst wird dann mit zu gebraucht und bildet den Schluß des Satzes.

Es war jetzt den Schiffern verboten, die Bucht zu verlassen. (A. Seghers)

...der weißgepuderten Perücke gelang es nicht, diese Physiognomie zu verschönern. (W. Bredel)

Der unabhängige Infinitiv (ohne zu) dient auch zur Bildung eingliedriger Sätze, um einen Befehl, zuweilen auch einen Wunsch auszudrücken.

Antreten! Abzählen!“ Achtzig Moorsklaven waren in zwei Gliedern angetreten. (W. Bredel)

„Den Gehrock gleich herausrichten, Christine, und die guten Schuhe! Mein Mann muß früh aufstehen!“ (J. R. Becher)

Adrienne folgte ihm dösig. „Ruhig bleiben“, redete sie sich zu, „nur ruhig bleiben! Schnell von hier wegkommen und Robert oder jemand anders von den Genossen aufsuchen, damit sie erfahren, was hier vorgeht.“ (F. C. Weiskopf)

§ 179. Der abhängige Infinitiv. Der abhängige Infinitiv tritt im Satz als ein Teil des zusammengesetzten verbalen Prädikats auf; er erfüllt auch die Funktionen einiger Satzglieder (Objekt, Attribut, Adverbialbestimmung). Er wird mit bzw. ohne zu gebraucht. Ohne zu steht der abhängige Infinitiv:

1. als Teil des zusammengesetzten verbalen Prädikats

a) mit den Modalverben;

Inzwischen war es Nacht geworden, und ich wollte in mein Zimmer hinaufgehen. (E. E. Kisch)

In einigen Betrieben soll schon wieder gut gearbeitet werden... (W. Bredel)

b) mit den Verben haben, heißen (befehlen), nennen;

...bald hieß er ihn einen Ankömmling an der Bahn abholen... (A. Seghers)

„Warum eilst du denn so, Liesel?“ — „Nennst du das eilen?“ (A. Seghers)

Das Verb haben bildet mit dem Infinitiv ohne zu stehende Redewendungen: du hast gut reden (lachen, spotten usw.), vgl. mit dem Russischen: тебе хорошо говорить (смеяться, насмехаться и т. д.).

Allan hatte gut reden. Es war ja gar nicht möglich, vorläufig einen einzigen Zug in den Tunnel zu bringen... (B. Kellermann)

Lenore fand ihre Schwägerin, als sie ins Nachbarhaus lief, gesund und frisch, aber beinahe beschämt. „Du hast gut trösten“, sagte die Wöchnerin, „du hast einen Sohn.“ (A. Seghers)

2. als prädikatives Attribut mit dem Verb haben und in der Konstruktion accusativus eum infinitivo mit den Verben hören, fühlen, sehen, machen und (selten) finden.

Bereits am darauffolgenden Dienstagmorgen hatte der Vorsitzende des Gewerkschaftsausschusses, Louis Schönhusen, ein großes Schriftstück auf seinem Schreibtisch liegen... (W. Bredel)

...da hörte ich im Schlaf unsere Tür gehen. (A. Seghers)

Karlchen fühlte sein Herz vor Glück und Stolz anschwellen. (B. Balazs)

Da sahen wir Hartinger gehn, drüben, auf einem Weg, in der Ferne... (J. R. Becher)

Die Erinnerung an dieses Lachen machte mich selbst lachen... (J. R. Becher)

Johanna fand die kalte Wand einschmelzen zwischen ihm und ihr. (L. Feuchtwanger)

Anmerkung. Die Konstruktion accusativus cum infinitivo läßt sich nicht wörtlich ins Russische übersetzen; ihr entspricht meist ein Nebensatz (Objektsatz), oder der Infinitiv wird durch ein attributives Partizip bzw. ein Substantiv wiedergegeben. Vgl.:

...da hörte ich im Schlaf unsere Tür gehen. ...затем сквозь сон я услышал, как открывали нашу дверь (затем я сквозь сон услышал шум открываемой двери).
Da sahen wir Hartinger gehn, drüben, auf einem Weg, in der Ferne... Вдруг мы увидели вдали Хартингера, идущего по дороге...

§ 180. Mit zu steht der abhängige Infinitiv:

1. als Teil des zusammengesetzten verbalen Prädikats:

a) mit den Verben, die in Verbindung mit dem Infinitiv modale bzw. eine andere Bedeutung haben: sein, haben, brauchen, glauben, scheinen, vermögen; verstehen, wissen; vgl.:

Anna Quangel sah ängstlich zögernd zu ihrem Mann hinüber. „Sie haben mich anzusehen! Nicht diesen Hochverräter!“ (H. Fallada) Анна Квангель в робкой нерешительности взглянула на мужа. „Не смейте смотреть на этого преступника! На меня смотрите!“
Ein Mädchen schrie auf. Oben am Rand des Hoteldachs hatte sie etwas gesehen oder zu sehen geglaubt. (A. Seghers) Какая-то девушка вскрикнула. Там, на краю крыши, она что-то заметила или ей показалось, что заметила.
Johannes erhielt wohl ebenfalls von seinen Altersgenossen hie und da eine Einladung, aber er hatte nicht viel Freude an dem Verkehr mit ihnen. Er vermochte an ihren Spielen nicht teilzunehmen... (Th. Mann) Иоганнеса иногда приглашали к себе его сверстники, но он не испытывал радости от общения с ними. Участвовать в их играх он не мог.
Da er gewöhnlich auch in irrigen und ihm wiedersprechenden Auffassungen immer etwas fand, was zutraf, wußte er goldene Brücken zu bauen und verstand es vortrefflich, Streitende zu versöhnen. (W. Bredel) Выискивая всегда „зерно истины“ даже в ошибочных, неприемлемых для него взглядах, он прекрасно умел находить золотую середину и мирить спорщиков.

In Verbindung mit dem Infinitiv bezeichnen die obengenannten Verben verschiedene Schattierungen der modalen Bedeutung: haben und sein drücken die Notwendigkeit bzw. Möglichkeit aus, dabei hat haben + zu + Infinitiv aktive Bedeutung und sein + zu + Infinitiv passive; diese beiden Konstruktionen drücken die Möglichkeit aus, wenn der Satz eine Negation bzw. einige Adverbien oder Modalwörter (leicht, kaum, schwer, schwerlich u. a.) enthält; brauchen drückt die Notwendigkeit aus, steht aber nur in Sätzen, die eine Negation bzw. eine Einschränkung (nur) enthalten; glauben bezeichnet eine Annahme, die vom Subjekt des Satzes ausgeht; scheinen eine Annahme des Redenden bzw. Schreibenden; verstehen, wissen und vermögen bezeichnen eine Möglichkeit, ein Können (bzw. Nichtkönnen);

b) mit den Verben, die den Beginn, die Fortdauer, den Abschluß eines Vorgangs sowie einen regelmäßig wiederkehrenden Vorgang bezeichnen: anfangen, beginnen, fortfahren, fortsetzen, aufhören, pflegen u. a.;

Auch der Alte begann aus dem Fenster zu sehen. (E. Strittmatter)

Ich habe diese Tage fortgefahren, die Ilias zu studieren. (J. W. Goethe)

Sie... schlüpfte in einen kleinen Laden, der eben geöffnet wurde. Hier pflegte sie gewöhnlich ihre Handschuhe zu kaufen. (B. Kellermann)

2. als Objekt bei vielen Verben sowie bei prädikativen Adjektiven bzw. Partizipien, die den Adjektiven nahe stehen: behaupten, bitten, sich erinnern, erlauben, sich freuen, fürchten, versprechen, verbieten, wünschen u. a.; bereit, begierig, (un)fähig, froh, stolz, wert u. a.; betrübt, erfreut, entzückt, erstaunt, gerührt, überrascht u. a.;

Ja, zu siegen erlaubte der König seinen Generalen. (W. Bredel)

Er erinnerte sich, in seinem Leben nur einmal ein ähnliches Gefühl tiefer Besorgnis empfunden zu haben. (B. Uhse)

Marion war von Herzen froh, nicht allein zu sein. (B. Kellermann)

Mein Begleiter war entzückt, einen Gleichgestimmten gefunden zu. haben... (H. Heine)

3. als Attribut zu einem abstrakten Substantiv;

Er fühlte die Kraft in sich, auf andere Menschen zu wirken. Er wagte sogar den Versuch, seine Meinung aufzuschreiben. (A. Seghers)

Endlich kam sie auf den Gedanken, den spanischen Dolch ihres Vaters mitzunehmen. (B. Kellermann)

4. als Adverbialbestimmung der Folge, wenn der Satz ein prädikatives Adjektiv (seltener Substantiv) mit den verstärkenden Adverbien und Partikeln so, zu (allzu, zu sehr) bzw. genug enthält;

„Immer muß ich daran denken, daß er so liebenswürdig war, mir ein Flugzeug nach Wien zur Verfügung zu stellen!“ (B. Kellermann)

Ludwig war schließlich im siebenundzwanzigsten Jahr und alt genug, über sein Leben selbständig zu entscheiden. (W. Bredel)

5. in Infinitivgruppen, die durch die Konjunktionen um, (an)statt bzw. ohne eingeleitet werden. (Mit diesen Konjunktionen tritt zuweilen auch ein Infinitiv ohne nähere Bestimmungen auf.) Die Infinitivgruppe mit um erfüllt meist die Funktion einer Adverbialbestimmung des Zieles.

Sie müssen weiterleben, Sie müssen sich hinkämpfen, um weiterzuleben. (H. Mann)

Tony blieb ein bißchen stehen, um auf ihre Nachbarin Julchen Hagenström zu warten... (Th. Mann)

Manchmal (selten) kann um auch ausbleiben.

Beide setzten sich nieder zu schreiben... (J. W. Goethe)

Die Damen standen noch, dem Hause abgekehrt, bei dem Postwagen, die Niederholung ihres übrigens bescheidenen Gepäcks zu überwachen... (Th. Mann)

Enthält der Satz ein prädikatives Adjektiv (seltener Substantiv) mit den verstärkenden Adverbien zu (allzu, zu sehr) bzw. genug, so erfüllt die Infinitivgruppe die Funktion einer Adverbialbestimmung der Folge.

Jules war zu alt, um die Ereignisse um ihn herum zu verstehen. (W. Bredel)

Anmerkung. Die Infinitivgruppe mit um bezeichnet zuweilen weder Ziel noch Folge, sondern einen Vorgang, der später stattfindet als der durch das Prädikat ausgedrückte.

Würz fuhr alle Augenblicke zusammen, raffte sich auf, um gleich wieder zusammenzufahren. (A. Seghers)

Still und bescheiden fließt die Alster durch Wiesen und Wälder des hamburgischen Landgebiets,... um mit einem Male inmitten des Häusermeeres der Großstadt sich zu einem breiten, kilometerlangen See auszudehnen. (W. Bredel)

Die Infinitivgruppe mit (an)statt erfüllt die Funktion einer Adverbialbestimmung der Art und Weise, dabei bezeichnet sie einen nicht eingetretenen Vorgang. Dieser Vorgang wird dem durch das Prädikat ausgedrückten gegenübergestellt.

Er lief, statt den Schienen nachzugehen, ein Stück in die Anlage. (A. Seghers)

Die Infinitivgruppe mit ohne erfüllt gleichfalls die Funktion einer Adverbialbestimmung der Art und Weise, aber stets mit verneinender Bedeutung.

Er ging schnell und besinnungslos, ohne aufzublicken. (Th. Mann)

Die Großmutter steckte das Geld, ohne es nachzuzählen, in ihr Portemonnais. (J. R. Becher)

Anmerkung. Im Russischen entspricht dieser Infinitivgruppe eine Wortgruppe mit dem Adverbialpartizip (деепричастный оборот), die eine Negation enthält. Vgl.:

Die Majorin sprach weiter, ohne auf Marianne zu achten. (B. Uhse) Жена майора продолжала говорить, не обращая внимания на Марианну.

§ 181. In manchen Fällen schwankt der Gebrauch der Partikel zu vor dem abhängigen Infinitiv:

1. vor dem Infinitiv als Teil eines zusammengesetzten verbalen Prädikats in unpersönlichen Sätzen mit es heißt;

„...jetzt heißt es, alles zu tun, was den Krieg verhindert.“ (A. Seghers)

„So, jetzt heißt’s Abschied nehmen.“ (J. R. Becher)

2. vor dem Infinitiv In der Funktion eines Objekts bei den Verben lehren, lernen und helfen;

„Vater, lehr’ mich lesen, man zu, Vater, lehr’ mich lesen!“ — „Ja, ja, du sollst lesen lernen“, sagte der Vater. (O. Ernst)

...ich lernte „unerhörte Wortmischungen“ herstellen. (J. R. Becher)

Man muß lernen, eine Verfassung richtig zu lesen. (H. Mann)

Ich begrüßte ihn... und half ihm den Koffer tragen. (J. R. Becher)

Er half ihm, die Maschine aufzurichten. (B. Uhse)

3. vor dem Infinitiv In der Funktion einer Adverbialbestimmung des Ziels bei den Verben der Bewegung gehen, kommen, fahren, reiten, laufen, eilen u. a. sowie bei dem Verb schicken. Der Infinitiv ohne zu kommt häufiger vor.

„Kommen Sie, wir gehen zusammen essen.“ (B. Kellermann)

Da schlich ich mich in die Küche hinaus, das Küchenbeil holen. (J. R. Becher)

Cäsar ist nicht gekommen, an seiner Grammatik zu arbeiten. (B. Brecht)

Ich kam endlich wieder zu Sinnen und eilte, diesen Ort zu verlassen. (A. Chamisso)

Ein Wagen mit Männern der Volkswehr fuhr nach Uhlenhorst, den Geheimrat holen. (W. Bredel)

Das Partizip (Mittelwort)

§ 182. Das Partizip Ist die zweite der beiden Nominalformen des Verbs. Als Nominalform steht es dem Adjektiv nahe und wird daher auch verbales Adjektiv genannt. Es gibt im Deutschen zwei Partizipien: das Partizip I und das Partizip II. Das Partizip II ist mit dem System des Verbs aufs engste verknüpft. Es ist eine seiner drei Grundformen. Als Grundform dient es zur Bildung zusammengesetzter Zeitformen (Perfekt, Plusquamperfekt, alle Zeitformen des Passivs) und des Infinitivs II.

§ 183Bildung der Partizipien. Das Partizip I aller Verben wird vom Präsensstamm mit Hilfe des Suffixes -(e)nd gebildet: fieber-nd, wiss-end, steh-end, sag-end, schreib-end, lauf-end, wend-end. Das Suffix -nd bekommen die Verben mit -el, -er im Stammauslaut.

Das Partizip II wird vom Verbalstamm mit Hilfe des Präfixes ge- und des Suffixes -(e)t bzw. -en gebildet: ge-sam-mel-t, ge-sag-t, ge-lauf-en, ge-schrieb-en, ge-frühstück-t. Im Partizip II der Verben mit trennbaren Bestandteilen steht das Präfix ge- zwischen den beiden Bestandteilen: auf-ge-standen, mit-ge-bracht, weg-ge-gangen, teil-ge-nommen, statt-ge-funden, kennen-ge-lernt. Kein Präfix bekommt das Partizip II der Verben mit dem unbetonten, daher untrennbaren ersten Bestandteil sowie das Partizip II der Verben mit dem Suffix -ier: versammelt, entlaufen, übersetzt, vollbracht, studiert, marschiert.

Das Partizip II der Verben, die von zusammengesetzten Wörtern abgeleitet sind und die Betonung auf der ersten Silbe haben, bekommt das Präfix -ge-: ´frühstücken — gefrühstückt, ´rechtfertigen — gerechtfertigt, ´ratschlagen — geratschlagt, ´kennzeichnen — gekennzeichnet, ´wetteifern — gewetteifert. Das Partizip II der schwachen Verben bekommt das Suffix -(e)t. Der Stammvokal bleibt unverändert: sagen — gesagt, machen — gemacht, arbeiten — gearbeitet, studieren — studiert, bekunden — bekundet.

Das Suffix -et bekommen die Partizipien der Verben mit d, t, chn, dn, ffn, gn, tm im Stammauslaut: geland-et, geleit-et, gerechn-et, geordn-et, geöffn-et, geleugn-et, geatm-et.

Das Partizip II der Verben mit dem Präsensumlaut lautet: gekannt, genannt, gedacht usw.; die Verben senden und wenden weisen im Partizip II Doppelformen auf: gesandt und gesendet, gewandt und gewendet.

Das Partizip II der starken Verben bekommt das Suffix -en; der Stammvokal verändert sich nach dem Ablaut: beginnen— begann — begonnen; zuweilen stimmt er mit dem des Infinitivs oder des Präteritums überein: laufen — lief — gelaufen; schreiben — schrieb — geschrieben.

Das Partizip II der Verben praeteritopraesentia weist Doppelformen auf. In der einen Form stimmt der Stammvokal mit dem des Präteritums überein und das Partizip bekommt das Suffix -t: können — konnte — gekonnt; müssen — mußte — gemußt; wissen — wußte — gewußt.

Die zweite Form des Partizips II dieser Verben stimmt mit dem Infinitiv überein: können, müssen, wissen usw. (Über den Unterschied im Gebrauch dieser beiden Formen s. § 135.)

Das Partizip II der unregelmäßigen Verben lautet: sein — gewesen, haben — gehabt, werden — geworden, tun — getan, gehen — gegangen, stehen — gestanden, bringen — gebracht.

Das Partizip II der Verben mit sich behält „sich“ bei.

Rochwitz blieb mitten auf der Truppe stehen... und sagte, den Blick forschend auf den sich abwendenden Kollegen gerichtet... (W. Bredel)

...Waldemar, sich vorbeugend von seiner Bank, begann jetzt, allerlei Figuren in den Sand zu zeichnen, ohne recht zu wissen, was er tat. (Th. Fontäne)

Das Partizip II der Verben mit sich wird als verbales Adjektiv ohne „sich“ gebraucht.

Noch lange saß sie aufgestützt und lauschte hinüber. (H. Mann)

Über die Wiege gebeugt, standen die beiden Alten nebeneinander und betrachteten das schlafende Kind. (Th. Mann)

§ 184. Die verbalen Eigenschaften der Partizipien. Die Partizipien drücken ein Genus aus und haben eine relative zeitliche Bedeutung; sie können gleich einem Verb nähere Bestimmungen (Objekte und Adverbialbestimmungen) bei sich haben und behalten die Rektion des entsprechenden Verbs bei. Das Partizip bildet mit seinen näheren Bestimmungen eine Partizipialgruppe.

Die zwei... Männer schlichen, vorsichtig, wiederholt aufmerksam um sich blickend, durch das Gewirr der Gassen. (W. Bredel)

Fabian hörte ihr zu, die Blicke ohne Unterbrechung auf sie gerichtet. (B. Kellermann)

§ 185. Das Partizip I bezeichnet einen nicht abgeschlossenen, dauernden Vorgang, es drückt die Gleichzeitigkeit in bezug auf das Prädikat des Satzes aus: ich sehe (sah, werde sehen) die aufgehende Sonne.

Kofferbehangene Gepäckträger bahnen sich schwitzend ihren Weg. (W. Bredel)

...ich ging weinend zu Bette... (H. Heine)

Das Partizip I hat stets aktive Bedeutung.

Ein Fuhrwerk rasselte ihm entgegen, auf dem lauter schwatzende Bäuerinnen saßen... (B. Kellermann)

Das Partizip I der transitiven Verben wird in attributiver Funktion zuweilen mit der Partikel zu gebraucht, dabei erhält es eine passive Bedeutung und bezeichnet eine Notwendigkeit bzw. Möglichkeit; vgl.: das zu lesende Buch — das Buch, das gelesen werden soll (das zu lesen ist); die nicht zu lösende Aufgabe — die Aufgabe, die nicht gelöst werden kann (die nicht zu lösen ist.)

Er gehörte dem Leben, dem kommenden, neuen und besseren, dem zu erkämpfenden Leben. (J. Petersen)

Das Partizip I mit zu bezeichnet die Möglichkeit, wenn eine Negation bzw. die Adverbien kaum, leicht, schwer, schwerlich und manche anderen hinzutreten.

Herr von Prackwitz hatte an diesem Tage einige nicht wieder gutzumachende Dummheiten hinter sich. (H. Fallada)

Zuweilen hat das Partizip I mit zu keine ausgesprochen modale Bedeutung.

Jetzt lebten sie nur noch für ihr häusliches Glück und genossen die Vorfreude auf das zu erwartende Kind. (H. Fallada)

Der Diener Ali kam, ein junger, gut anzusehender Araber in der Tracht seines Volkes... (L. Feuchtwanger)

Im Partizip I der Verben mit trennbaren Bestandteilen steht die Partikel zu zwischen den beiden Bestandteilen.

Er fährt in diese Stadt mit neugieriger Freude und — heimlicher Angst, mit einem nicht abzuschüttelnden Gefühl des Unbehagens. (W. Bredel)

Anmerkung. Es gibt keine entsprechende russische Wendung. Man übersetzt sie meinst durch einen Nebensatz, zuweilen auch durch eine Partizipialgruppe: das zu lesende Buch — книга, которая должна быть прочитана, которую надо (следует) прочесть; die nicht zu lösende Aufgabe — задача, которая не может быть решена, которую нельзя (невозможно) решить; der zu bearbeitende Rohstoff — сырье, подлежащее обработке, подлежащее обработке сырье, сырье, которое подлежит обработке, которое надо (следует) обработать.

§ 186. Seiner Bedeutung nach unterscheidet sich das Partizip II der transitiven Verben recht wesentlich von dem der intransitiven.

Das Partizip II der transitiven Verben hat stets passive Bedeutung: das gelesene Buch — das Buch, das gelesen worden ist.

Paris glich einer belagerten Festung. (W. Bredel)

Das Partizip II der intransitiven Verben mit begrenzter Bedeutung unterscheidet sich seinen Funktionen nach wesentlich von dem Partizip II der intransitiven Verben mit nichtbegrenzter Bedeutung (s. § 171). Das Partizip II der intransitiven Verben mit begrenzter Bedeutung hat stets aktive Bedeutung: die angekommene Delegation, die Delegation, die angekommen ist.

Frieda Brenten umarmte und streichelte ihren nach dreizehn Jahren heimgekehrten Sohn. (W. Bredel)

In der Gasse vor dem Hause drängten sich die zusammengelaufenen Menschen. (W. Bredel)

Das Partizip II der intransitiven Verben mit nichtbegrenzter Bedeutung dient nur zur Bildung zusammengesetzter Verbalformen, d. h. es existiert im System des Verbs ausschließlich als dritte Grundform. Es besitzt keinerlei verbale und nominale Eigenschaften, die die Partizipien anderer Verben aufweisen. Doch kommt es vor, daß auch das Partizip IL der letztgenannten Verben im Satz als eine Nominalform des Verbs auftritt. In diesem Fall wird das Partizip II durch nähere Bestimmungen konkretisiert und erhält dadurch die Eigenschaften des Partizips II eines Verbs mit begrenzter Bedeutung.

Den nur in Hemd und Hose auf die Straße geeilten Männern rief Brenten zu... (W. Bredel)

Der Unterschied zwischen den Verben mit begrenzter und denen mit nichtbegrenzter Bedeutung spielt bei den transitiven Verben hinsichtlich der Funktionen des Partizips II keine so entscheidende Rolle wie bei den intransitiven Verben. Jedoch ist er nicht unwichtig da, wo es sich um die zeitliche Bedeutung des Partizips II der transitiven Verben handelt. Das Partizip II der Verben mit begrenzter Bedeutung bezeichnet einen abgeschlossenen Vorgang und drückt die Vorzeitigkeit in bezug auf das Prädikat des Satzes aus: ich sehe (sah, werde sehen) die aufgegangene Sonne; ich schicke ab (schickte ab, werde abschicken) den geschriebenen Brief.

Seine Nerven waren gestählt durch die Prüfungen der vergangenen Stunde. (H. Mann)

Statt des verhafteten Holzklötzchens kam ein ganz junger Bub... (A. Seghers)

Das Partizip II der transitiven Verben mit begrenzter Bedeutung bezeichnet zuweilen eine Eigenschaft, die als Ergebnis einer Handlung entstanden ist.

Er sah sich in einem ziemlich großen, halbdunklen Gemach: die Fenster waren verhängt. (Th. Mann)

Ein Mann kam mit einer alten reparaturbedürftigen Spieluhr, ein andrer mit einem von einem Bastler gebauten Radioapparat... (A. Scharrer)

Das Partizip II der transitiven Verben mit nichtbegrenzter Bedeutung bezeichnet einen nicht abgeschlossenen Vorgang und drückt die Gleichzeitigkeit in bezug auf das Prädikat des Satzes aus.

Er fuhr, von Erika begleitet, in geschlossenem Wagen zum Bahnhof... (Th. Mann)

Er hatte sich so stark an seine neue Frau gewöhnt, daß er kaum mehr darüber nachdachte, daß das erwartete Kind nicht seines war. (A. Seghers)

Anmerkung. Die deutschen Germanisten gebrauchen in ihren Werken die Bezeichnungen: participium praesentis (das Präsenspartizip) für das Partizip I und participium perfecti (das Perfektpartizip) für das Partizip II. Diese Bezeichnungen müssen jedoch abgelehnt werden, denn siegeben eine falsche Vorstellung von der zeitlichen Bedeutung der beiden Partizipien.

§ 187. Ihren nominalen Eigenschaften nach stehen die Partizipien dem Adjektiv nahe. Wie diese werden sie im Satz oft attributiv gebraucht und kongruieren dann mit dem Substantiv in Geschlecht, Kasus und Zahl: ein lesender Student, der lesende Student, die lesenden Studenten; ein gelesenes Buch, eines gelesenen Buches usw. Gleich den Adjektiven können die Partizipien substantiviert werden und behalten dabei die adjektivische Deklination bei. In ihrem grammatischen Geschlecht richten sie sich nach denselben Regeln, die für die substantivierten Adjektive gelten (s. § 91): der Verwundete, die Leidende, das Gewünschte.

...und er stand in Angst und Reue vor der Klagenden... (G. Keller)

Die Geladenen, die größtenteils auswärts wohnten, waren im Laufe des Tages und einige schon gestern eingetroffen. (B. Kellermann)

Er zerriß das Getippte in kleine Fetzchen. (H. Fallada)

Zwischen Partizip und Adjektiv läßt sich oft keine scharfe Grenze ziehen. Manche Partizipien haben sich von dem entsprechenden Verb losgelöst und sind in die Kategorie der Adjektive übergegangen. Damit ist meist auch ein Bedeutungswandel verbunden. Das sind z. B. folgende Wörter: reizend (vgl. das Verb reizen), dringend, entscheidend, entzükkend, auffallend, leidend, anziehend, spannend, drückend, schlagend; gebildet (vgl. das Verb bilden), verwandt, aufgeweckt, vertraut, besessen, geschickt, gewandt, verschwiegen, verlegen, angesehen, erfahren, bekannt, entzückt, gelehrt, gelernt, gedient. Vgl. mit dem Russischen: руководящая работа, знающий инженер, начинающий писатель, образованный человек.

Es war eins der auffallenden Mädchen gewesen. (H. Mann)

Sie hatten sich zwei kleine reizende Damen mitgebracht... (B. Kellermann)

Am folgenden Abend gab man im Stadttheater den „Lohengrin“, und alle gebildeten Leute waren anwesend. (Th. Mann)

„Ein geweckter Kopf, ein munterer Patron, der Schüler Buddenbrook.“ (Th. Mann)

Zuweilen hat sich in der Sprache nur die Form des Partizips erhalten, während das Verb selbst verschwunden ist: verdutzt (vgl. mhd verdutzen), betagt (vgl. mhd betagen), begabt (vgl. mhd begaben = beschenken, zur Hochzeit ausstatten), anwesend, abwesend, verschmitzt, entgeistert, berühmt, verhaßt.

Die Partizipien, die in die Kategorie der Adjektive übergehen, übernehmen dabei auch die Eigenschaften des Adjektivs, die das Partizip als verbales Adjektiv nicht besitzt. So bekommen die ehemaligen Partizipien die Steigerungsfähigkeit.

In Schweiß gebadet, völlig außer Atem, kam er wieder in belebtere Gegenden. (B. Kellermann)

Von der langwierigen Aufgabe... kehrten seine Gedanken zu der brennendsten Aufgabe zurück, an der vielleicht alles scheitern konnte. (A. Seghers)

Das ehemalige Partizip I kann prädikativ gebraucht werden (im Gegensatz zu dem Partizip I mit ausgesprochen verbalem Charakter).

Herr Schuhmann war nicht anwesend. (H. Mann)

Marx war leidend, müde, überanstrengt und übermäßig nervös, als er zum ersten Male in Karlsbad sein Heil suchte. (E. E. Kisch)

Glänzender, zugleich und rührender war nun Emmi. (H. Mann)

Anmerkung. Es gibt im Deutschen Adjektive, die sich ihrer Form nach an ein schwaches Partizip II anlehnen. Sie sind von Substantiven mittels der Präfixe be-, ge-, und (seltener) ver-, zer-, um-, ein- und des Suffixes -t abgeleitet: beringt, belaubt, bezopft, bestrumpft, beflaggt, beheimatet, bereift, geflügelt, geblümt, geädert, gestiefelt, verhaßt, eingefleischt, zerlumpt, umrankt, zerfurcht.

In der weißlackierten Türe erschien das bebrillte fahle Gesicht eines Arztes im weißen Kittel, der laut auflachte. (B. Kellermann)

Ein zerlumpter Knecht näherte sich mit einer hochbeladenen Getreidefuhre der Scheune. (Th. Harych)

In den meisten Fällen besteht das aus dem Partizip entstandene Adjektiv neben dem gleichlautenden Partizip I bzw. II. Vgl.: eine dringende Botschaft — der in die Stadt dringende Feind; ein gebildeter Mann — ein richtig gebildeter Satz; ein verdienter Offizier — das verdiente Geld; die besorgte Mutter — der besorgte Brief; die fahrende Habe — das fahrende Auto.

Die Partizipien I und II erfüllen im Satz verschiedene syntaktische Funktionen; sie können als Attribut, Adverbialbestimmung, prädikatives Attribut usw. auftreten. (Näheres darüber siehe in den entsprechenden Paragraphen der Syntax.)

§ 188. Die Konstruktion sein + Partizip II. Das Partizip II der transitiven Verben bildet mit dem Verb sein eine besondere Konstruktion. Sie tritt im Satz als Prädikat auf und kennzeichnet den Zustand des Subjekts. Das Partizip II mit sein erfüllt die Funktion eines nominalen Prädikats und steht seiner Bedeutung nach dem nominalen Prädikat mit einem Adjektiv als Prädikativ nahe (s. § 249); vgl.: Das Land ist befreit. — Das Land ist frei.

Der Unterschied zwischen der Bedeutung des Prädikats im ersten und im zweiten Beispiel besteht darin, daß das prädikative Partizip II eine Eigenschaft ausdrückt, die das Ergebnis einer früheren Handlung (befreien) ist; die im Adjektiv ausgedrückte Eigenschaft steht dagegen in keinerlei Beziehung zur Handlung. Das Partizip II mit sein kommt im Satz meist in den beiden einfachen Zeitformen vor, im Präsens oder im Präteritum.

Meine Arbeit ist für heute beendet. (E. M. Remarque) Er konnte seine Augen nicht von dem schönen Gesicht wegwenden, das von einem grünen Halblichte verschönert war. (J. W. Goethe)

Zwischen den Häusern, war der Weg noch gepflastert... (A. Seghers)

Er war in zahllose Liebesgeschichten und Raufereien verwickelt gewesen. (A. Seghers)

Zuweilen treten im Partizip II seine verbalen Eigenschaften in den Vordergrund. Das hängt mit dem Gesamtinhalt des Satzes zusammen, d. h. damit, ob im Satz der Urheber oder die näheren Umstände der Handlung angegeben sind. In diesem Fall wird die ganze Konstruktion zu einem einfachen verbalen Prädikat und kommt ihrer Bedeutung nach dem Passiv nahe. Dabei entspricht das Partizip II mit sein im Präsens dem Perfekt Passiv, im Präteritum dem Plusquamperfekt Passiv.

...und er sagte, indes er sich in die Brust warf: „Jetzt bist du durch den Bach getragen vom Prinzen von Bearn.“ (H. Mann)

Unter Rosaliens energischem Antrieb war die Abmachung schnell und fest getroffen. (Th. Mann)

Nachdem unser Freund verbunden und angekleidet war, eilte der Chirurgus weg. (J. W. Goethe)

Anmerkung. Zuweilen überschneidet sich die Konstruktion des Partizips II mit sein im Präsens bzw. Präteritum ihrer Bedeutung nach mit den entsprechenden Zeitformen des Passivs. Dies ist der Fall, wenn das Partizip II von einem Verb mit nichtbegrenzter Bedeutung gebraucht wird (s. § 171).

„Madame“, sagte Henri mit ehrlicher Überzeugung, „Sie sind schuldlos verfolgt, wie ich wohl sehe.“ (H. Mann)

Das kleine „Residenzcafe“... bot einen schönen Ausblick auf die alte Lindenallee, war aber nur an Sonn- und Feiertagen während des Promenadenkonzertes stärker besucht. (B. Kellermann)

Solcher Gebrauch des Partizips II mit sein wird von deutschen Grammatikern und Stilisten als regelwidrig betrachtet und ist daher nicht zu empfehlen.

§ 189. Das System der Partizipien ist in der russischen Sprache reicher als in der deutschen. Der Hauptunterschied besteht darin, daß das russische Partizip vier Formen kennt und eine absolute zeitliche Bedeutung aufweisen kann.

Vergleichende Tabellen

Das Partizip Im Deutschen Das Partizip Im Russischen
Verb Partizip I Partizip II Глагол Причастие
действительного
залога

Причастие
страдательного
залога
        настоящего
времени

прошедшего
времени

настоящего
времени

прошедшего
времени

lesen lesend gelesen читать читающий читавший читаемый читанный
lesen kommend gekommen приходить приходящий пришедший

Außerdem besitzt das Verbalsystem des Russischen eine Art verbales Adverb, das Adverbialpartizip (деепричастие); es weist zwei Formen auf, die sich durch ihre relative zeitliche Bedeutung voneinander unterscheiden: прибывая — прибыв; решая — решив.

Dem russischen Adverbialpartizip (деепричастие) entspricht im Deutschen zuweilen das Partizip I bzw. II. Vgl.:

Каждый день по небу ходили курчавые облака, изредка заслоняя солнце. (М. Горький) Jeden Tag zogen über den Himmel krause Wölkchen, hin und wieder die Sonne verhüllend.
Оставшись один, Пьер продолжал так же улыбаться. (Л. Толстой) Allein geblieben, lächelte Pierre noch immer in gleicher Weise.
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Vorwort
Einleitung
Morphologie
Die grammatischen Formen des Wortes
Kapitel I. Die Wortarten
Kapitel II. Das Substantiv
Kapitel III. Der Artikel
Kapitel IV. Das Adjektiv
Kapitel V. Das Pronomen
Kapitel VI. Das Numerale
Kapitel VII. Das Verb
Kapitel VIII. Das Adverb
Kapitel IX. Das Modalwort
Kapitel X. Die Präposition
Kapitel XI. Die Konjunktion
Kapitel XII. Die Partikel
Kapitel XIII. Die Interjektion
Syntax
Kapitel I. Der Satz
Kapitel II. Die Wortgruppen
Kapitel III. Die Hauptglieder des Satzes
Kapitel IV. Die Nebenglieder des Satzes
Kapitel V. Die gleichartigen Satzglieder
Kapitel VI. Schwankungsfälle bei der Bestimmung von Satzgliedern
Kapitel VII. Die Absonderung
Kapitel VIII. Die Wortfolge (Wortstellung) im einfachen erweiterten Satz
Kapitel IX. Die Anrede
Kapitel X. Der zusammengesetzte Satz
Kapitel XI. Die Zeichensetzung
Anhang
A. Vokalkürze und Vokallänge
B. Die Bezeichnung gleicher oder ähnlicher laute durch verschiedene Buchstaben
C. Die Anfangsbuchstaben
D. Die Schreibung von Fremdwörtern
E. Die Silbentrennung
Quellennachweis zu den belegen


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